Sehr geehrter Herr Aiwanger, autsch. Das tat weh. Nein, nicht der Stich mit der Impfnadel. Der vielbeschworene Pieks ist so schwach, den werden Sie, seien Sie versichert, so gut wie nicht spüren. Was weh tat, war das, was Sie da vor einer Woche nach der Kabinettssitzung zum Impfen sagten.
Ja, sicher, es war eine fiese Nummer vom Mann, dessen Stellvertreter Sie sind. Sie da vor versammelter Münchner Presse bloßzustellen, auflaufen zu lassen. Und öffentlich zur Rechtfertigung zu drängen, warum Sie sich (noch) nicht gegen das Coronavirus haben impfen lassen – nicht so nett. Es gebe da ein paar, die da "noch seltsame Gefühle" hätten. "Vielleicht sagst du selber was dazu, warum du dich nicht impfen lassen willst", hähmte Markus Söder zu Ihnen herüber. Und dann haben Sie ein bisschen was dazu gesagt.
Dass Impfen eine "persönliche Entscheidung" sei nämlich. Ja, absolut, wer wollte Ihnen da widersprechen. Eine persönliche Entscheidung, bewusst und frei. "Dabei sollte es bleiben", haben Sie dann im selben Satz aber noch angefügt – da wurde es schmerzhaft und problematisch. Denn leider ist diese Impfung gegen das Virus, das seit anderthalb Jahren weltweit das Leben bestimmt, keine reine Privatsache.
Ihre Impf-Ausreden klingen wie Hohn
Für jemanden, der gerade mit Pflaster auf dem Oberarm vom Arzt kommt, weil er den öffentlichen Appellen und Aufrufen zur großen kollektiven Impf-Kampagne folgte, klingen Ihre Impf-Ausreden wie Hohn. Herr Aiwanger, es gibt Menschen, die hadern mit sich, die zögern, die überlegen. Die ignorieren Risiken nicht, denen ist das Hin und Her bei den Impf-Empfehlungen nicht egal – und Sie melden sich im Impfzentrum oder beim Hausarzt trotzdem an. Trotz aller persönlichen Unsicherheit. Nicht, weil sie für sich selbst große Angst vor einer Ansteckung hätten, nachdem sie Vorsicht und angemessenes Verhalten gelernt haben in diesen anderthalb Jahren Pandemie. Nicht, weil sie unbedingt wieder bedenkenlos Party machen, feiern, ohne Maßnahmen weiterleben wollten wie früher.
Sie nehmen das Grummeln im Bauch vorher - und wenn's blöd kommt, die zwei, drei Kopfschmerz-Schüttelfrost-Fieber-Tage im Bett nachher - nicht vorrangig zum eigenen Schutz in Kauf. Sondern tatsächlich aus Gemeinsinn. Aus Bürgerpflichtgefühl.
Impfen ist eine solidarische Handlung. Impfen ist oberstes Gebot. So proklamiert es die Staatsregierung, seit Monaten. Blöd nur, dass der Freistaat bei der Impfquote vergleichsweise nicht so gut dasteht. Wenn der stellvertretende Ministerpräsident dann sagt, dass er sich das erst mal "ein paar Wochen und Monate" anschauen will und ihm das alles noch zu unsicher sei . . . Dann ist das höchstens solidarisch mit den Corona-Leugnern, Pandemie-Verharmlosern, Anti-Impf-Esoterikern, mRNA-Misstrauern und Vakzin-Gegnern. Mit denen, die immer noch meinen, es wäre am besten, sich eben mal selber anzustecken. Weil, als Genesener hätte man eh den besten Schutz. Der Aiwanger, der bayerische Vize-Ministerpräsident, lässt sich nicht impfen? Siehste mal, schau an.
Persönliche Entscheidung ja - aber für einen Minister auch eine politische Entscheidung
Politiker taugen bekanntlich nicht immer zum sozialen Vorbild. In der Pandemie aber, Herr Minister, müssen es Mandatsträger und Amtsinhaber unbedingt sein. Wenn Sie erst mal abwarten wollen – auf was? Auf die vierte Welle? Überlastete Intensivstationen im Herbst? Noch ein paar Mutationen? Darauf, dass Covid-19 eine ganz normale Krankheit wird wie Influenza und Magen-Darm? Die vielen Impfmüden und Impfträgen, denen zwei Wege zum Hausarzt zu weit sind, warten offenbar mit.

Dass es eine vierte Infektionswelle in Deutschland geben wird, scheint klar. Die Frage ist nur: Wie steil wird die Kurve sein? Die Modellrechnungen, die das Robert Koch-Institut (RKI) am Montag vorgelegt hat, sind ziemlich eindrucksvoll. Je mehr Menschen sich impfen lassen und sich weiter vorsichtig und vernünftig verhalten, desto kleiner ist die Welle. Aber: 85 Prozent vollständig Geimpfte in der Altersgruppe der Zwölf- bis 59-Jährigen – bis Herbst! - und mindestens 90 Prozent bei der älteren Bevölkerung müssen laut RKI schon sein. Die Szenarien im anderen Fall – man will sie am liebsten gar nicht wissen.
"Ich muss die Impfung erst mal nicht haben", haben Sie nach dem Impfgipfel gesagt. Echt nicht? Herr Aiwanger, Sie müssen nicht vor den Kameras die Ärmel hochkrempeln. Müssen nicht twittern und kein Foto vom Stempel im Impfpass posten. Aber wenn Sie sich wirklich gegen die Impfung entscheiden, dann sollten Sie dringend aufhören, ständig über Schutzmaßnahmen zu schimpfen, voreilig Lockerungen durchzusetzen, noch mehr Öffnungen und Freiheiten zu fordern und für Bayerns Bürger die Normalität auszurufen.
Falls Sie als freier Impf-Wähler sich doch noch in politischer Solidarität eine Spritze setzen lassen wollen, mit oder ohne ganz persönlichen Grund: Es sollen jetzt bayernweit ganz unkompliziert viele Termine frei sein. Sie wären bestimmt gleich dran.
Mit besten Impfehlungen,
Alice Natter, Redakteurin
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