Dass der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi auch mit 76 Jahren noch ein ebenso brillanter wie witziger Redner ist, weiß man. Dass er sich mittlerweile dem Mittelstand verbunden fühlt, hat man gelesen. Dass der langjährige SED-, PDS- und Linken-Politiker bei Unternehmerinnen und Unternehmern aber so gut ankommt, wie jetzt in Würzburg beim Jahresempfang des Bundesverbands der mittelständischen Wirtschaft (BVMW) für Mainfranken, überrascht dann doch.
Die gut 350 Zuhörerinnen und Zuhörer auf dem Bürgerbräu-Gelände applaudieren nicht nur kräftig, sie zeigen sich nach der einstündigen Rede geradezu begeistert. "Gysi hat mir aus der Seele gesprochen." Oder: "Er macht Mut, mal einen anderen Blickwinkel einzunehmen." Und: "Er animiert, öfter auch unkonventionelle Wege zu gehen", heißt es hinterher an den Stehtischen und am Büchertisch, wo Gysi noch seine zahlreichen Werke signiert.

"Ein überaus gelungener Abend", freute sich Christian Göwecke, der Leiter der BVMW-Region Mainfranken.
Gregor Gysi: Soziale Spaltung in Deutschland nimmt zu
Zu Beginn ist die Stimmung noch etwas verhalten. Soziale Ungerechtigkeiten anzuprangern, ist aber nun mal die Hauptaufgabe eines überzeugten Linken wie Gysi. Es sei ein Skandal, dass die Reichen im Zuge der Corona-Krise immer noch reicher geworden wären, während rund ein Zehntel der Weltbevölkerung hungern müsse. Auch hierzulande habe sich die soziale Spaltung vertieft, im reichen Deutschland lebten allein 2,8 Millionen Kinder in Armut. "Einem guten Unternehmer-Image ist das nicht zuträglich", sagt Gysi. "Da versauen Ihnen einzelne den Ruf."

Um die schwächelnde Wirtschaft wieder anzukurbeln, fordert Gysi, die Schuldenbremse aufzugeben. "In eine Krise hinein zu sparen, ist absolut falsch." Staatliche Investitionen seien jetzt notwendig, in die Infrastruktur, in die klimagerechte Transformation, in Bildung ("das ist unser Rohstoff") und in die Digitalisierung. Er könne nicht verstehen, dass die Internetverbindung in Uganda besser sei als in Brandenburg: "Vielleicht gibt man uns ja Entwicklungshilfe." Werde das Land weiter auf Verschleiß gefahren, profitierten davon am Ende nur die rechtsradikalen Kräfte.
Gysi fordert mehr Engagement gegen Steuerflucht
Um all die Vorhaben zu finanzieren, fordert Gysi ein "gerechteres Steuersystem". Dass der Spitzensteuersatz heute niedriger ist als zu Helmut Kohls Zeiten, könne er nicht verstehen. Es sei auch nicht richtig, Erträge aus Vermögen niedriger zu besteuern als Arbeitseinkommen. Von solchen Regelungen profitierten vor allem Banken und Konzerne. "Die Mitte" müsse es bezahlen, "weil sich niemand an die Großen herantraut".
Gysi schlägt zudem vor, die Steuerpflicht "wie in den USA" an die Staatsbürgerschaft zu koppeln - und nicht an den Wohnsitz. Dann könne kein Deutscher vor dem Finanzamt nach Monaco oder auf die Seychellen flüchten.
Zustimmung erhält der Linken-Politiker auch für die Idee, die Lohnnebenkosten, die ein Unternehmer zahlen muss, nicht von der Zahl der Beschäftigten abhängig zu machen, sondern von der Wertschöpfung. Dann müssten bei schwächerer Auftragslage nicht als Erstes die Beschäftigten gekündigt werden. "Es mag ja Gründe geben, solche Vorschläge abzulehnen, aber wir diskutieren nicht mal darüber", klagt der 76-Jährige. Er fordert, Strukturen zu überdenken, "wenigstens zur Probe".
Gysis konkreter Vorschlag zum Bürokratie-Abbau
Unkonventionell auch ein Vorschlag zum Bürokratieabbau: Was spricht denn dagegen, fragt Gysi rhetorisch, dass (Bau-)Anträge, die den Gesetzen entsprechen, "einfach automatisch als genehmigt gelten", wenn die betroffene Verwaltung nicht innerhalb von sechs Wochen reagiert hat. Dann könne eben nicht passieren, dass ein Café-Betreiber, der für den Sommer die Genehmigung für Tische und Stühle im Außenbereich beantragt hat, den Bescheid erst erhält, "wenn der Sommer längst vorbei ist". Großer Applaus unter den Mittelständlern, die sich regelmäßig mit Behörden auseinandersetzen müssen.
Fragt man Gregor Gysi, warum sich nicht alle Parteien auf seine vernünftig klingenden Vorschläge einigen können, lächelt er verschmitzt. Er sei eben in der falschen Partei. Aber angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Probleme in Deutschland, würden diejenigen, die sich trauen auch mal neue Wege zu gehen, in allen demokratischen Parteien mehr. Das mache ihm Hoffnung, sagt der 76-Jährige. Er wolle jedenfalls weiter nerven - und schließt eine erneute Kandidatur 2025 für den Bundestag nicht aus.