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WÜRZBURG: Über 100 Menschen ermordet und vergessen

WÜRZBURG

Über 100 Menschen ermordet und vergessen

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    Margarete Höppel: Eines von über 100 Würzburger Euthanasie-Opfern.
    Margarete Höppel: Eines von über 100 Würzburger Euthanasie-Opfern.

    Margarete Höppel aus der Schiestlstraße in Grombühl, genannt Gretchen, geboren 1892, war 1,55 Meter klein, hübsch und nicht besonders klug. Sie hatte Bärenkräfte und ein zorniges Gemüt. Sie war psychisch krank und suizidgefährdet. Sie schlug zu, wenn sie in Rage war.

    1918 schickte die heimatliche Armenpflege – eine Vorläuferin des städtischen Sozialamtes – Höppel in die Kreis-Irrenanstalt Werneck. 22 Jahre lang blieb sie dort. Dann brachten die Nationalsozialisten sie um, vermutlich am 29. November 1940 in der Tötungsanstalt Sonnenstein im sächsischen Pirna. Gretchen Höppel, eines von 70 000 Opfern der Euthanasie-Aktion T4, wurde vergessen.

    Sechs Frauen und ein Mann, Mitglieder der Aktion Stolpersteine, erforschen das Schicksal der Würzburger Euthanasie-Opfer. Sie kommen, sagt ihre Sprecherin Benita Stolz, „nur sehr langsam voran“.

    Anders als der Holocaust ist der Massenmord an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen kaum erforscht. Das hat mehrere Gründe.

    Die Nationalsozialisten sprachen zwar offen von „lebensunwertem Leben“ und „Rassehygiene“, sie rechneten auch die Kosten die Versorgung in den Heil- und Pflegeanstalten vor. Aber sie hatten kein Interesse daran, das Morden öffentlich zu machen. Inge Kaesemann von der Würzburger Euthanasie-Recherchegruppe berichtet am Beispiel Wernecks, wie sie die Verbrechen tarnten. Das Krankenhaus, das ab 1934 Heil- und Pflegeanstalt hieß, wurde am 3. Oktober 1940 geräumt. 61 Patienten, unter ihnen wahrscheinlich auch Gretchen Höppel, wurden nach Großschweidnitz im Landkreis Görlitz deportiert, in eine Zwischenanstalt. Von dort wurden sie in die Tötungsanstalt nach Pirna-Sonnenstein gebracht.

    Andere Patienten – viele mit einer langen Psychiatrie-Karriere – wurden vor ihrer Ermordung durch mehrere Zwischenanstalten geschleust, bis sich ihre Spuren verloren. Die Menschen wurden unter ärztlicher Anleitung vergast, die Leichname verbrannt, die Akten vernichtet und die Urnen den Angehörigen zugesandt, meist mit falsch deklarierten Absendern, um das Nachforschen zu erschweren. Stolz spricht von einem „Versteckspiel, damit man nicht dahinterkam“. Petra Blasius von der Recherche-Gruppe sagt, „die Unterlagen sind extrem schlecht“.

    Immerhin: Etwa 30 000 Akten wurden in Berlin gefunden, das Bundesarchiv bewahrt sie auf.

    Die Würzburger Rechercheure tapp- ten am Beginn ihrer Arbeit im Dunkeln. Ihr Vorbild war Dieter Fauth aus Zell, der die Geschichte der Wertheimer Euthanasie-Opfer erforscht hat – mehr als seine Arbeit hatten sie nicht. Dann bekamen sie eine Liste mit über 100 Namen. Stolz will „aus Personenschutzgründen nicht sagen, woher wir die haben“. Anhand der Liste suchen die Rechercheure nun in Archiven, Anstalten und Gedenkstätten, treffen sich alle paar Wochen, gleichen ihre Ergebnisse ab und suchen weiter. Blasius sagt, das sei „nicht spektakulär. Aber viel Fleißarbeit“.

    Die Fleißarbeit ist auch nötig, weil mit den Mördern auch Angehörige dafür sorgten, dass die Namen der Opfer in Vergessenheit gerieten.

    Gretchen Höppel ist die Urgroßtante von Stefanie Köster, einer Toch- ter des Würzburger Alt-Oberbürgermeisters Jürgen Weber. Köster berichtet, sie sei vor sieben Jahren zufällig auf Höppels Schicksal gestoßen. Ihre Großmutter habe sich dunkel an das Gretchen erinnert und erzählt, wie streng das Höppels Leben und Sterben als Geheimnis gehütet wurde. Köster forschte beim Bundesarchiv nach und hatte Glück: Gretchen Höppels Krankenakte ist noch da. Die Familie macht der Heimlichtuerei jetzt ein Ende. Köster sagt, es solle „nicht so aussehen, als habe es diese Frau nie gegeben“.

    „Unglaublich, wie erfolgreich die Nazis waren, wie das eingesickert ist in das Bewusstsein der Bevölkerung.“

    Petra Blasius Euthanasie-Rechercheurin

    Höppels Nachfahren sind weiter als viele andere. Blasius berichtet, die Euthanasie sei bis heute „noch sehr tabuisiert“. Angehörige hätten sich für die Kranken und Behinderten geschämt, hätten die Ansichten der Nazis vom „lebensunwerten Leben“ geteilt oder hätten ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht genug gekümmert hätten. Die Rechercheurin Regine Samtleben meint, „das Wort Irrenanstalt war noch unheimlich lange negativ in den Köpfen“. Bis heute falle den Leuten schwer, eine psychische Krankheit zuzugeben. Blasius sagt: „Unglaublich, wie erfolgreich die Nazis waren, wie das das eingesickert ist in das Bewusstsein der Bevölkerung.“

    Die Recherchegruppe hofft auf mehr Angehörige, die ihre ermordeten Ahnen dem Vergessen entreißen, wie Kösters Familie das getan hat. Sie plant für den 15. März 2015 die erste große Verlegung von Stolpersteinen für Würzburger Euthanasie-Opfer.

    Kontakt: Regine Samtleben, Tel. (0931) 88 10 89, E-Mail: regine.samtleben@web.de

    Aktion T4

    Die systematische Ermordung von Menschen mit einer Behinderung oder psychischen Krankheit bekam erst nach dem Krieg den Namen T4. Namensgeberin war die Adresse der Mordzentrale, die Tiergartenstraße 4 in Berlin.

    Federführend waren Hitlers Reichskanzlei. 40 Gutachter forderten die Akten aus den Pflege- und Heilanstalten ein und entschieden über Leben und Tod. Das endgültige Urteil sprachen zwei Obergutachter. Einer von ihnen war der Medizinische Leiter der Aktion, der Würzburger Uni-Professor für Psychiatrie und Neurologie, Werner Heyde.

    Die Opfer wurden in sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten ermordet, in Gomadingen (Baden-Württemberg), Brandenburg an der Havel, Alkoven bei Linz, Pirna in Sachsen, Bernburg in Sachsen-Anhalt und Hadamar bei Limburg.

    Die Aktion T4 lief 1940/41. Die Morde an Kranken und Behinderten wurden danach in der sogenannten wilden Euthanasie fortgesetzt. Etwa 130 000 starben an Unterernährung.

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