Er gibt Auskunft über die Dynamik der Pandemie, deshalb gilt er neben der Sieben-Tage-Inzidenz als wichtigster Hinweis zur Corona-Lage: der sogenannte "R-Wert". Er beschreibt, wie schnell sich die Pandemie ausbreitet. Und er war im Frühjahr 2020 Grundlage für Einschränkungen und Lockdowns. Nun melden Würzburger Wissenschaftler deutliche Zweifel am R-Wert an. In einer Studie kommen Virologen und Bioinformatiker zum Ergebnis, dass der Wert vor allem in der ersten Pandemiephase zu hoch angesetzt war.
Was das bedeutet, erklärt Studienautor Prof. Carsten Scheller vom Institut für Virologie und Immunbiologie der Uni Würzburg.
Frage: Herr Scheller, was hat Sie stutzig gemacht am R-Wert?
Prof. Carsten Scheller: Der R-Wert gibt ja an, wie viele Menschen durch eine infizierte Person angesteckt werden. Auf Basis eines berechneten Werts von 3 gab es Prognosen, wonach sich das Infektionsgeschehen in Deutschland im Frühjahr 2020 explosionsartig verstärken würde. Das ist glücklicherweise nicht eingetreten, es gab dann viel weniger Infektionen als prognostiziert. In so einem Fall muss man sich fragen, ob die angenommenen Parameter eigentlich stimmen. Deshalb haben wir nachgerechnet und festgestellt, dass der R-Wert in Wirklichkeit viel niedriger war. Wir haben einen R-Null-Wert von 1,34 für Infektionen im März 2020 ermittelt.

Wie konnte es zu dieser Verzerrung kommen?
Scheller: Der so genannte R-Null-Wert der ersten Stunde, der für die Prognosen verwendet wird, wurde gar nicht in Deutschland bestimmt, sondern man hat im Wesentlichen die R-Werte aus China übernommen. Es ist in den ersten Wochen einer Pandemie sehr schwierig, die Werte gut zu bestimmen. Die Viren sind neu, unbekannt. Man lernt innerhalb kurzer Zeit erst dazu, wie man sie diagnostiziert. Tests werden entwickelt, hergestellt, verteilt. Und wenn nach einigen Wochen massenhaft getestet wird, haben Sie allein dadurch einen scheinbaren Anstieg der Fallzahlen. Das müsste in den Berechnungen korrigiert werden.
Durch das schnelle, umfangreiche Testen musste der R-Wert zwangsläufig hochgehen?
Scheller: Ja, das ist so eine Verzerrung. Wenn Sie ein Fischereiunternehmen haben und ein Fischerboot hinausschicken, kriegen Sie am Abend ein Netz voll. Wenn Sie am nächsten Tag zehn Boote losschicken, kriegen Sie am Abend zehn Fischernetze voll. Das bedeutet aber nicht, dass am zweiten Tag zehnmal mehr Fische im Meer waren. In der Anfangsphase der Pandemie war aber gar nicht klar, wie viele Tests pro Woche eigentlich gemacht wurden. Insofern war das schwer zu berücksichtigen.

Ist die Politik also einem falschen Kriterium gefolgt?
Scheller: Ja. Die ursprünglichen Prognosen der Bundesregierung waren zu pessimistisch – da war ja die Rede von bis zu einer Million Todesfälle innerhalb weniger Wochen. Und darauf basierte dann ein wichtiger Teil der politischen Entscheidungsfindung.
Hätte es demnach mancher Einschränkungen gar nicht bedurft?
Scheller: Ein hoher R-Wert bedeutet bei Atemwegserkrankungen, dass es kaum einen jahreszeitlichen Effekt gibt – also das Frühjahr allein kaum Möglichkeiten hat, die Infektion zu bremsen. Dann verordnet man zusätzliche Maßnahmen, um die Infektionswelle zu brechen. Welche Effekte nun Lockdowns, Kontaktreduzierung oder Schulschließungen genau hatten, lässt sich aber auch heute kaum herausrechnen.

Was bringt es dann überhaupt, wenn wir jetzt wissen, dass der R-Wert vor zweieinhalb Jahren zu hoch angesetzt war?
Scheller: Erstens wird es nicht die letzte Pandemie gewesen sein, die wir erleben. Insofern sollten wir künftig viel genauer hinschauen, wie präzise ein R-Wert tatsächlich ist. Und für die aktuelle Pandemie: Noch geht man davon aus, dass die Lockdown-Maßnahmen 2020 sehr effektiv waren, weil man einen anfangs sehr hohen R-Wert zugrunde legt. Das kann dazu verleiten, bei der nächsten Winterwelle ähnlich zu verfahren und wieder Lockdowns zu verhängen. Je höher der R-Wert falsch eingeschätzt wurde, desto stärker überschätzt man die Wirkung von Lockdown-Maßnahmen. Möglicherweise waren deren Effekte viel geringer, als man gedacht hat.
Hat denn der R-Wert heute eine bessere Aussagekraft?
Scheller: Das Robert Koch-Institut (RKI) berechnet tagesaktuell einen Sieben-Tage-R-Wert, er ist im Lauf der Zeit immer besser geworden – auch, weil sich an der Zahl der Testungen nicht mehr so viel geändert hat. Aber als Referenzpunkt spielt der anfängliche R-Null-Wert immer noch hinein und kann so für eine gewisse Verzerrung in der Beurteilung der Lage führen.
Der Stand von Freitag, 21. Oktober 2022: 0,98. Ist dieser Wert also weiter mit Vorsicht zu genießen?
Scheller: Das RKI berechnet die R-Werte aufgrund der Testzahlen, also der bestätigten positiven PCR-Tests. Da wäre zu berücksichtigen, wie unterschiedlich intensiv getestet wird. Wenn man es ganz sauber machen wollte, müsste man eine repräsentative Stichprobe machen, ähnlich wie bei Wahlbefragungen.

Sie schlagen vor, den Anstieg der Übersterblichkeit als weiteren Faktor zu berücksichtigen.
Scheller: Ja, weil die Übersterblichkeit als Faktor sehr robust ist – unabhängig davon, wieviel man testet. Der Tod ist da unbestechlich. Man kann daran sehr verlässlich sehen, wie stark sich eine Infektion in der Bevölkerung ausgebreitet hat. Die Übersterblichkeit ist ein guter Indikator – allerdings kann auch sie von anderen Effekten beeinflusst sein, zum Beispiel von Engpässen in der medizinischen Versorgung. Das muss dann berücksichtigt und eingerechnet werden. Sonst könnte es auch hier zu einer Überschätzung kommen.
Sie haben mit Ihrer Studie den R-Wert für die Vergangenheit korrigiert. Lässt sich denn mit dem Faktor Übersterblichkeit überhaupt ein aktueller R-Wert ermitteln?
Scheller: Die Übersterblichkeit ist ein Mittel, das man zur Berechnung der R-Werte verwenden kann. In die Übersterblichkeit treten jedoch auch alle anderen Faktoren ein, die die Sterblichkeit beeinflussen: In heißen Wochen im Sommer sehen wir eine erhöhte Übersterblichkeit aufgrund der hohen Temperaturen; wenn eine Influenza-Welle beginnt, wird dadurch ebenso Übersterblichkeit verursacht wie durch SARS-CoV-2. Das alles muss man vorher sauber trennen, um zu entscheiden, ob man aktuelle Veränderungen der Übersterblichkeit für die Berechnung von R verwenden kann oder nicht. Im März/April 2020 hatten wir ein günstiges Zeitfenster, ohne weitere Störeinflüsse wie Influenza oder Hitzewellen. Es ist also ein Hilfsmittel, das von Fachleuten je nach Lage benutzt werden kann oder nicht. In unserer Arbeit haben wir aber auch gezeigt, wie man das bisher verwendete Verfahren, nämlich die Berechnung aufgrund von Inzidenzwerten, deutlich verbessern kann.
Nämlich wie?
Scheller: Indem man nämlich die Zahl der durchgeführten Tests mitberücksichtigt. Ohne eine solche Berücksichtigung kamen wir da auch auf Werte von 2 bis 3, mit Berücksichtigung hingegen auf die viel realistischeren Werte von 1,4 bis 1,8. Aber auch hier stecken immer noch Fehlerquellen wie Änderungen in der Teststrategie drin. Übersterblichkeit und korrigierte Inzidenzwerte sind also der Versuch, schlechtes Zahlenmaterial wenigstens ein bisschen sinnvoll nutzen zu können, um einen R-Wert zu berechnen, der einigermaßen plausibel ist. Der Goldstandard ist und bleibt aber eine repräsentative Stichprobenmessung, die es in Deutschland aber leider nicht gibt.
Also bleibt es wichtig, Zweifel zu behalten und auch Zahlen kritisch zu hinterfragen...
Scheller: Das ist ja Aufgabe von Wissenschaft. Wir Wissenschaftler treten in der Öffentlichkeit auf, um den Stand der Dinge zu vermitteln. Unsere Aufgabe ist es aber auch, ständig kritisch zu hinterfragen, ob alles dabei richtig ist. Daraus besteht wissenschaftlicher Fortschritt: Dinge, die als relativ gesichert betrachtet werden, anzuzweifeln und zu überprüfen.