Rotznasen, Husten, Halsschmerzen: Kurz vor den Sommerferien rollt eine Erkältungswelle durch die Region. Kinderarztpraxen sind voll, in den Kliniken werden zahlreiche schniefende Patientinnen und Patienten behandelt. "Seit gut vier Wochen sehen wir jeden Tag wieder volle Infekt-Sprechstunden", sagt Jürgen Marseille, Kinderarzt aus Röttingen (Lkr. Würzburg) und unterfränkischer Obmann des Kinderärzte-Berufsverbands. Das Problem: Erkältungssymptome sind kaum von der Delta-Variante des Coronavirus zu unterscheiden. Ist das ein Grund zur Sorge für Eltern?
Grundsätzlich nein, sagt Marseille. Die meisten Corona-Tests in seiner Praxis seien bisher negativ gewesen. Hingegen steige die Zahl der kleinen Patientinnen und Patienten mit Infekten der oberen Luftwege deutlich an, auch bei anderen Kinderarztpraxen in Würzburg. Schuld daran seien ganz klassisch Rhinoviren und Adenoviren. "Das sind typische Erreger, die normalerweise zwischen Januar und März die Praxen füllen", so der Mediziner. Durch die Corona-Beschränkungen habe sich die Erkältungswelle jedoch ein Stück weit ins Jahr hinein verschoben – "das ist erstaunlich, da haben wir so nicht damit gerechnet". Noch im vergangenen Quartal habe die Diagnose Bronchitis bei Kindern in seiner Praxis bei minus 93 Prozent gelegen, sagt Marseille. "Jetzt kommen die Atemwegsinfekte wieder."
Kinderkliniken verzeichnen steigende Zahl an Infekten
Das macht sich auch in den Kinderkliniken der Region bemerkbar. "Seit dem Ende der Pfingstferien merken wir, dass die Zahl der Infekte steigt", sagt Dr. Johannes Herrmann, Chefarzt der Kinderklinik am Leopoldina-Krankenhaus Schweinfurt. Der vergangene Winter sei "der gesündeste seit Jahrzehnten" gewesen, insgesamt hätte die Klinik seit Beginn der Pandemie rund 30 bis 40 Prozent weniger Patientinnen und Patienten. Jetzt aber, mitten im Sommer, steige die Zahl wieder. Aktuell würden in der Leo-Kinderklinik knapp ein Fünftel mehr Atemwegs- und Magen-Darm-Infekte behandelt, als üblicherweise um diese Jahreszeit, so Herrmann.

Ähnlich sieht es in der Missio Kinderklinik in Würzburg aus, auch dort müssen derzeit zahlreiche Infekte behandelt werden. "Im Vergleich zum Sommer 2020 sind es erheblich mehr Patienten – geschätzt rund 80 bis 90 Prozent mehr", sagt Chefärztin Prof. Christina Kohlhauser-Vollmuth. Zwar sei das erste Corona-Jahr eine Ausnahmesituation gewesen, aber auch im Vergleich zu den Sommermonaten vor Corona "sehen wir eine Steigerung um geschätzt bis zu 30 Prozent". Auch in der Missio-Kinderklinik sei dafür die Infekt-Hochsaison im Winter quasi ausgefallen.
Und an der Würzburger Uniklinik? "Die Infektionsstation ist voll", bestätigt Prof. Christoph Härtel, Direktor der Kinderklinik. Pro Woche würden dort momentan etwa zehn Kinder betreut. Insgesamt lägen die Patientenzahlen auf dem Niveau von 2019 und 2020 – denn ganz ungewöhnlich sei eine Erkältungswelle in der Sommerzeit nicht, so der Kinderarzt. "Wir haben meistens im Winter und im Sommer eine Spitze an relativ banalen Infektionen, sowohl der Atemwege als auch des Magen-Darm-Traktes." Nur: Im Corona-Winter sei das eben "komplett ausgefallen". Warum? Das habe sicher an Kita- und Schulschließungen wie auch der Maskenpflicht gelegen, so Härtel. Dadurch hätten schlicht weniger Viren zirkulieren können.
"Seit dem Ende der Pfingstferien merken wir, dass die Zahl der Infekte steigt."
Dr. Johannes Herrmann, Chefarzt der Kinderklinik am Leopoldina-Krankenhaus Schweinfurt
Kinderarzt Jürgen Marseille sieht das genauso. "Wenn Kinder nicht zusammen in einem Raum spielen, bleiben sie sehr gesund." Üblicherweise mache ein Kita-Kind im Winter "zehn Infekte mit 39 Grad Fieber" durch, so Marseille. Das Immunsystem könne dadurch üben. Durch die Kontaktbeschränkungen sei das in diesem Jahr ausgefallen. Nach den Lockerungen sehe man nun: die ganz normalen RS-, Adeno- und Rhinoviren "sind durch Corona nicht weg, sondern es gibt wieder Ansteckungen".
Aus kinderärztlicher Sicht sei das auch etwas Gutes, sagt Uni-Klinikdirektor Härtel. "Für kleine Kinder bedeutet der Austausch mit Viren, die wenig anrichten, eine Art Bildung für das Immunsystem, ein immunologisches Training." Das sei in der frühen Kindheit wichtig. Natürlich würden Eltern derzeit anders damit umgehen, wenn das Kind Husten oder Schnupfen habe. Ohne negativen Test sei dann weder ein Kita- noch Schulbesuch möglich. "Das ist die Konsequenz aus einer Pandemie", sagt Härtel. Übermäßige Angst, dass sich hinter dem Schnupfen am Ende doch Corona verbirgt, müssten die Eltern aber nicht haben. "Kinder sind von Sars-CoV-2 kaum betroffen."

Wie aber lässt sich eine Erkältung überhaupt von der Delta-Variante des Coronavirus unterscheiden? Eine einfache Möglichkeit anhand der Symptome gebe es nicht, sagt Leo-Kinderklinikchef Herrmann. Im Krankenhaus würden deshalb alle ankommenden Patientinnen und Patienten auf Covid-19 getestet. Positive Fälle habe es bei der Altersgruppe bis zehn Jahre aber nur sehr vereinzelt gegeben.
Tests als einzige Möglichkeit zur Unterscheidung
Unterscheiden könne man eine Erkältung und Corona "nur durch Testen", unterstreicht Dr. Christian Pfeiffer, unterfränkischer Vorsitzender des bayerischen Hausärzteverbandes. Momentan zählt er in seiner Praxis in Giebelstadt (Lkr. Würzburg) ebenfalls wieder mehr Erkältungen. Die Wahrscheinlichkeit einer Corona-Ansteckung halte er im Raum Würzburg hingegen derzeit für gering, da die Inzidenz immer noch sehr niedrig sei. "Aber das kann – und ich glaube fest wird – sich bald ändern."
Und dann? Mit Blick auf das kommende Schuljahr sei "dringend wünschenswert", dass sich möglichst alle Erwachsenen im Umfeld eines Kindes impfen lassen, sagt Christina Kohlhauser-Vollmuth von der Missio-Kinderklinik. Zum Schutz der Kinder. Und um normales Leben wieder zu ermöglichen. Denn "aus kinderärztlicher Sicht ist es unabdingbar, dass die Kitas und Schulen ab Herbst 2021 einen normalen Alltag gewährleisten können".