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HELMSTADT / WÜRZBURG: Vom Waschlappen zum Abenteurer

HELMSTADT / WÜRZBURG

Vom Waschlappen zum Abenteurer

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    Vom Waschlappen zum Abenteurer
    Vom Waschlappen zum Abenteurer

    Sieben Gründe, warum ich meine Behinderung liebe“ – so lautet der Titel eines Blogeintrags von Michael Herold. Doch diese Worte sind mehr als eine Überschrift: Sie sind die perfekte Selbstbeschreibung. Michael Herold lebt mit einer Behinderung. Eine spinale Muskelatrophie, im Volksmund als Muskelschwund bekannt, sorgt dafür, dass seine Muskeln immer weniger Arbeit leisten. Lange Spaziergänge, eine Kiste Bier alleine tragen – unmöglich für ihn. Und: Wie stark die Krankheit sich noch ausbreiten wird, weiß niemand. Doch dem 35-Jährigen ist das alles egal – er mag seine Behinderung, sagt er.

    Bereits wenige Sekunden nach der Begrüßung ist klar: All dies ist nicht bloß Gerede. Die gute Laune springt einem aus dem Rollstuhl, in dem Michael Herold heute sitzt, fast entgegen. Und auch, bis man merkt, wie locker er tatsächlich mit seiner Behinderung umgeht, dauert es nicht lange. „Immerhin darf ich Witze über Behinderte machen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich bin ja selbst einer“, sagt er und lacht.

    Gerade hat Herold, der seit einiger Zeit in Helmstadt lebt, im Würzburger Residenzgarten ein Fotoshooting für das Projekt „Kein Widerspruch“ absolviert. Trotz Behinderung erfolgreich sein und diese vielleicht sogar als Vorteil sehen – solche Menschen will das Projekt des Münchener Fotografen Johannes Mairhofer vorstellen. Als Michael Herold davon erfuhr, überlegte er nicht lange: „Das Konzept hat mich sofort angesprochen. Außerdem will ich Menschen mit dieser Denkweise anstecken“, erzählt der gebürtige Wertheimer.

    Bis er selbst davon angesteckt wurde, dauerte es allerdings viele Jahre. Jahre, in denen Michael Herold eher einer von denen war, die er in seinem Blog heute gerne mal als „Waschlappen“ bezeichnet. Einer, der lieber alleine mit seinem Schicksal haderte und seine Behinderung, so gut es ging, vor anderen vorsteckte. „Ich weiß noch, wie unangenehm allein das Wort war. Wenn sich meine Mitschüler über die ,behinderten‘ Hausaufgaben aufregten, war das für mich total furchtbar“, erinnert sich der 35-Jährige und ergänzt: „Muskelschwund? Ja klar. Behinderung? Natürlich nicht!“

    Heute dagegen müsse er aufpassen, dass er sich nicht „zu krass“ und politisch korrekt ausdrücke, weil er den Begriff „cool“ fände. „Ich erinnere mich, wie eine Österreicherin und ich uns gegenseitig wegen unserer Sprache aufgezogen haben. Irgendwann sagte ich zu ihr: Du sprichst ja ein behindertes Deutsch.“ Michael Herold lacht, wenn er solche Geschichten erzählt. Doch wie kam es dazu? Wie wurde er vom „Waschlappen“ zu dem selbstbewussten Mann mit seinen Tattoos und Piercings, der vor einem sitzt? Wieso ist er, so sagt der 35-Jährige selbst, stolz auf seine Behinderung? „Eigentlich ist ein Bericht, den ich gelesen habe, an allem schuld“, erklärt er. In diesem Bericht über die Evolutionsforschung dreht sich alles um das sogenannte „Handicap-Prinzip“. Dieses sagt vereinfacht aus: Welches Tier trotz Handicap den Wettbewerb mit seinen Artgenossen und Konkurrenten erfolgreich übersteht, werde als besonders tüchtig, lebensfroh und attraktiv wahrgenommen. „Es gibt zum Beispiel Antilopenarten, die nicht vor Löwen oder anderen Feinden flüchten, sondern um sie herumlaufen. Dadurch sagen Sie: Ich bin dir zwar unterlegen, aber laufe trotzdem nicht weg. Leg dich lieber mit jemand anderem an“, erklärt Michael Herold. Dieses eigentlich simple Prinzip habe ihm die Augen geöffnet. „Vorher dachte ich, ich muss mehr leisten, um so gut wie die ,Normalen‘ zu sein. Erst da habe ich kapiert: Wenn ich mit Behinderung das Gleiche schaffe, ist das eine krasse Leistung.“

    Ein „neuer“ Michael Herold war geboren und fackelte nicht lange, die Theorie in die Tat umzusetzen. Der 35-Jährige ist keiner, der bloß Vorträge hält – er lebt sie auch vor. Michael Herold schrieb eine Liste mit Dingen, die er tun wollte, sich aufgrund seiner Behinderung aber nie getraut hatte. Innerhalb von einem Jahr arbeitete er sie ab. Drachen- und Fallschirmfliegen, Tauchen, Surfen – all das hat er gemacht. Auch beruflich: Der gelernte Medieninformatiker studierte an einer Fernuniversität in den USA „Character Animation“. Heute hat er an vielen Animationsfilmen wie „Kung-Fu Panda“ mitgearbeitet – dafür zog er zwei Jahre nach Neuseeland. Außerdem hält er regelmäßig Vorträge und schreibt über sich und den Umgang mit seiner Behinderung. Geschafft hat er das alles, auch, weil er immer hartnäckig blieb. Denn trotz seines neuen Selbstbewusstseins war sie immer noch da – seine Behinderung.

    „Man muss sich besser informieren als andere, ganz einfach. Und auch mal was riskieren“, sagt Michael Herold und nennt als Beispiel seinen Trip nach Thailand. „Ich habe mir letzten Winter einfach ein Ticket gekauft, weil ich schon immer dorthin wollte.“ Dann begann die Recherche: Wie sieht es mit der Barrierefreiheit aus? Welches Hotel hat keine Stufen am Eingang? „Drei Wochen später war ich vorbereitet“, erklärt er und muss lachen, als er sich an das Design seines Rollstuhls während der zweimonatigen Reise erinnert: „Bei den Verkehrsverhältnissen wollte ich nichts riskieren. Deshalb sah ich aus wie eine rollende Discokugel.“

    Michael Herold ist zufrieden, er nennt sich sogar glücklich. Doch wie steht es in Sachen Familie aus, der Sache, die für viele das Glück erst perfekt macht? „Ich habe Frau und Kinder fest eingeplant“, sagt der 35-Jährige, schränkt aber ein: „Es muss für mich die perfekte Person sein. Ich funktioniere gut alleine, und das ich krampfhaft jemanden suche, wird nicht passieren.“ Und er ergänzt: „Ich brauche meine Abenteuer, das beißt sich schon.“ Dann aber sagt er nach kurzem Schweigen: „Wenn ich so darüber nachdenke: Eine Familie ist mir wichtiger.“ Dass er die Krankheit seinen Kindern einmal vererben könnte, ängstigt Michael Herold nicht. Es sei nicht sicher, ob diese überhaupt ausbreche. Vor allem aber „finde ich mein Leben absolut geil. Warum sollte das meinem Kind anders gehen?“ Auch könne er seine eigenen Erfahrungen ja weitergeben.

    Eines ist klar: Michael Herold hat noch viel vor. Trotz der einen Sache, die seine Zukunftspläne gefährdet: Die Ungewissheit über den Krankheitsverlauf. Zwar habe er bisher „das Glück, dass der Muskelschwund „extrem langsam verläuft.“ So kann der 35-Jährige, wenn auch unter größerer Anstrengung, noch selbst kurze Strecken laufen oder vom Tisch aufstehen. Doch wie lange – das weiß niemand genau. Entsprechend gibt es für ihn nur ein Motto: Vollgas geben. „Ich habe mich bei Filmstudios in Kanada und Japan beworben – mal schaun, wo es als nächstes hingeht.“

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