Ein 18-Jähriger geht in Hamburg zum Zahnarzt – und stirbt. Deser Fall sorgte Ende Mai bundesweit für Schlagzeilen. Der junge Mann hatte sich, wohl weil er Angst vor der langwierigen Zahnbehandlung – eine Wurzelbehandlung mit mehreren Füllungen – hatte, eine Vollnarkose geben lassen. Wie die Ermittlungen ergaben, starb der 18-Jährige an Herzversagen, das durch eine Vorerkrankung des Herzens und die Belastungen der mehrstündigen Operation verursacht wurde. Ein so schreckliches Ende eines Zahnarztbesuches ist glücklicherweise alles andere als üblich.
Aber Angst vor dem Zahnarzt, ja eine regelrechte Phobie, haben gar nicht so wenige Menschen, sagt einer, der es wissen muss: Hans-Peter Jöhren leitet in der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde den Arbeitskreis für Psychologie und Psychosomatik.
Frage: Herr Jöhren, der 18-jährige Jugendliche, der jüngst in Hamburg unter Vollnarkose bei einer Wurzelbehandlung starb, hatte panische Angst vor einem Zahnarzt. War der junge Mann damit ein Ausnahmefall oder leiden viele Menschen unter dieser Angst?
Hans-Peter Jöhren: Man muss zunächst auf klare Begriffe achten, denn hier kommt es immer wieder zu Verwirrung. An unserer Klinik beschäftigen wir uns mit den Menschen, die aus Angst bewusst nicht zum Zahnarzt gehen. Sie leiden unter Zahnbehandlungsphobie. Dazu haben wir 2006 in Bochum eine Straßenumfrage gemacht. Sie ergab: Bis zu zehn Prozent der Befragten vermeiden den Zahnarztbesuch generell. Studien gehen von drei bis vier Prozent Zahnbehandlungsphobikern aus. Das heißt hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung: Mehr als drei Millionen Menschen gehen grundsätzlich nicht zum Zahnarzt. Eine beträchtliche Zahl. Die weniger krankhafte Form ist die Zahnbehandlungsangst. Sie betrifft rund 70 Prozent der Bevölkerung. Sie gehen zwar regelmäßig zur Behandlung, aber mit einem mehr oder weniger großen Angstgefühl. Nur 20 Prozent suchen einen Arzt angstfrei auf.
Das ist doch ein verblüffend niedriger Wert.
Jöhren: Genau. Die Angst vor der Zahnbehandlung ist heute noch das größte Hindernis für das Erreichen einer optimalen Zahngesundheit in der Bevölkerung.
Ist die Angst vor dem Schmerz der Grund für die Verweigerung?
Jöhren: In der Tat. 86 Prozent der Ängstlichen gaben laut einer Studie an, dass sie früher traumatisierende Erfahrungen im Behandlungsstuhl gemacht hätten, bei 70 Prozent geschah dies in der Kindheit. Dabei ist, das muss man auch sagen, die Gefahr, dass während der Behandlung Schmerzen auftreten, sehr gering.
Irgendwann hat auch der zäheste Verweigerer Schmerzen. Und dann bleibt keine andere Wahl, als sich in die Praxis zu schleppen.
Jöhren: Ja, diese Menschen kommen häufig, wenn der Bereich der Frontzähne betroffen ist, weil die ja gut sichtbar sind, und wenn die Frau, Freundin oder Kollegen am Arbeitsplatz dann etwas sagen. Oder sie kommen, wenn sie Karies-Schmerzen haben. Die Phobiker haben seltsamerweise aber immer eine schlechte Meinung von ihren Zähnen, die sich gar nicht unbedingt bestätigt, wenn sie dann beim Zahnarzt sind.
Was tut der Arzt, wenn er bemerkt, dass ein Patient ängstlich ist?
Jöhren: Wer nicht gerade phobisch ist, aber Angst beim Zahnarzt hat, sollte das in der Praxis offen ansprechen. Man kann vereinbaren, dass die Behandlung – wenn möglich – unterbrochen wird; der Arzt muss sicherstellen, dass es auch eintritt, wenn er sagt: Es tut nur kurz weh oder: Es gibt nur einen kleinen Piekser bei der Spritze. Er muss wissen, wovor sich der Patient genau fürchtet. Wir haben einen Standard-Fragebogen entwickelt, in dem der Patient dazu genaue Angaben machen kann, bevor die Behandlung beginnt. Dann hat der Arzt eine gute Vorstellung und kann entsprechende Vorbereitungen treffen.
Die meisten Praxen bemühen sich ja inzwischen um eine Art Wohlfühl-Atmosphäre. Dient das der Angst-Prävention?
Jöhren: Man kann da des Guten zu viel tun. Marmor und Leder wirken zwar gediegen, können Patienten aber auch befremden und abstoßen. Eine Praxis sollte sich auf den Querschnitt der Bevölkerung einstellen, also auch auf die, die nicht mit Luxus in Kontakt kommen. Oft findet man auch Bilder und Poster, die den Zahn und die Behandlung thematisieren. Das hat in der Praxis nichts zu suchen, denn es kann irritierend wirken. Auch entsprechende Videos auf dem Flachbildfernseher im Wartezimmer sind nicht sinnvoll. Auch darf man den Patienten nicht lange allein auf dem Behandlungsstuhl warten lassen, denn das dient dem Angstabbau nicht.
Was können Eltern tun, um Kindern die Angst zu nehmen?
Jöhren: Die Kinder machen das, was die Eltern machen. Wenn Kinder früh mit ihren Eltern zum Zahnarzt kommen und das als normal empfinden, werden sie später nicht zu Angstpatienten. Die Kinder werden langsam an die Sache herangeführt, etwa mit Prophylaxe oder einer Zahnstein-Entfernung. Leider geht der Angstphobiker mit seinen Kindern nicht zur regelmäßigen Prophylaxe oder zur Kontrolle. So wird die Angst von Generation zu Generation weitergegeben.
Gibt es für einen Zahnbehandlungsphobiker Trainings oder Therapien, mit denen er die Angst überwinden kann?
Jöhren: Ja. Es gibt für jede Phobie, sei es Flugangst oder Zahnbehandlungsphobie, eine Verhaltenstherapie. Die haben wir an der Universität Witten-Herdecke seit Mitte der 90er-Jahre entwickelt, mit Elementen der Muskelentspannung und der Simulation einer Behandlung. Bei 75 Prozent der Patienten führt die Therapie zur Heilung und man bringt sie wieder auf den Zahnarztstuhl. Wenn die Heilung nicht gelingt, bleibt nur die Vollnarkose. Aber die ist nicht ohne Risiko.
Wo liegt das Risiko?
Jöhren: Die Vollnarkose ist heute im Grunde ein sicheres Verfahren. Wenn allerdings bei mehreren Zähnen eine Wurzelbehandlung gemacht werden muss, kann die Operation einige Stunden dauern. Wenn dann eine Erkrankung im Hintergrund vorliegt – etwa am Herzen – steigt das Risiko. Deshalb muss das vorher abgeprüft werden.
Übernehmen die Krankenkassen die Kosten für eine Psychotherapie?
Jöhren: Ja, der Verhaltenstherapeut muss eben eine Kassenzulassung haben. Es muss klar sein, dass es sich wirklich um eine Phobie handelt, also um eine psychiatrische Erkrankung gemäß dem weltweit angewandten sogenannten Diagnostisch-Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM). Eine normale Zahnbehandlungsangst gehört nicht dazu. Man muss also vorab eine Diagnose beim Psychotherapeuten vornehmen.
Wie lange dauert die Therapie?
Jöhren: Es geht meistens um vier bis fünf Sitzungen. Dazu gehören, grob gesagt, Diagnose, Entspannungsübungen, eine geistige, kognitive Neuausrichtung und Umorientierung sowie die Erfolgskontrolle. Nach drei bis vier Wochen kann die Therapie abgeschlossen sein.
Viele Zahnärzte bieten eine Behandlung unter Lachgas an. Ist das nicht kostengünstiger als eine Therapie?
Jöhren: Lachgas ist zwar eine gute Behandlungsmethode. Aber bei Phobikern verbietet es sich. Denn eines ist klar: 50 Prozent der Zahnbehandlungsphobiker leiden an einer psychischen Basis-Erkrankung. Und die muss diagnostiziert und behandelt werden. Lachgas eignet sich daher nur bei normalen Angstpatienten. Das Gleiche gilt auch für eine Behandlung unter Hypnose. Auch sie kann eine Psychotherapie, die einer Erkrankung auf den Grund geht, nicht ersetzen. Und man darf nicht vergessen: Mit einer lokalen Anästhesie, der berühmten Spritze, können wir heute jeden Patienten schmerzfrei behandeln. Das steht außer Zweifel.
Hans-Peter Jöhren
Der 52-Jährige ist Gründer und Leiter der Zahnklinik Bochum an der dortigen Augusta-Kranken-Anstalt. Als Professor ist Jöhren ein führender Experte in der Diagnostik und Therapie der Zahnbehandlungsangst und Zahnbehandlungsphobie. In der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) leitet er den Arbeitskreis für Psychologie und Psychosomatik. Jöhren stammt aus Recklinghausen, ist verheiratet und hat drei Töchter. SK/mic