Für viele Würzburger war in den 1970er-Jahren die „Landelektra“ in der Pleich das, was heute die großen Elektronik-Märkte sind. Dort kaufte man Kühlschrank und Bügeleisen, Fernseher und Radio. Doch 1980 kam für den Großhändler in der Pleich das Aus. Und im Januar 1987 sollte das Gebäude abgerissen werden, um dort Wohnungen zu bauen. Dabei machte man eine sensationelle Entdeckung: Ins Gemäuer waren rund 1500 jüdische Grabsteine aus dem Mittelalter eingearbeitet.
Karlheinz Müller wurde damals als einer der ersten an die Baustelle gerufen, als Grabstein-Fragmente im Abrissmaterial zutage traten. Müller war seit 1972 Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Würzburger Universität und hatte im Fach Judaistik promoviert. Als Kenner des Judentums wurde er früh von dem Fund verständigt
Er sei seinerzeit komplett überrascht gewesen, als er von dem Fund hörte, sagt Müller im Rückblick. Niemand habe vorher ahnen können, welche Überraschung sich in dem Gebäude befand.
Außergewöhnlicher Fund aus dem Mittelalter
Jemand habe ihm ein Grabsteinsegment in die Valentin-Becker-Straße, wo damals schon die jüdische Synagoge stand, gebracht und gesagt: „Bei der ,Landelektra‘ gibt's noch viel mehr davon“. Als er am nächsten Tag an die Baustelle hinter der Kirche St. Gertraud kam, traf er auf David Schuster, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde. Schnell sei ihnen beiden klar gewesen, so Müller, dass sie hier einen ganz außergewöhnlichen Fund aus dem Mittelalter vor Augen hatten.
Allerdings taten sich damit auch Probleme auf. Zunächst musste erreicht werden, dass beim weiteren Abriss, der anfangs mit schweren Baggern erfolgte, nur noch mit äußerster Vorsicht vorgegangen wurde. Zum Zweiten musste für die gefundenen und alle künftig zutage tretenden Steine eine sichere Unterbringungsmöglichkeit gefunden werden. Es begann ein Wettlauf gegen die Zeit.
Wohnbau-Projekt des St. Bruno-Werks
Ein Blick zurück: 1980 hatte die Stadt Würzburg das „Landelektra“-Gebäude erworben, denn damals war gerade das Thema der Sanierung der doch ziemlich heruntergekommenen Pleich aktuell. Das St. Bruno-Werk wollte hier ein soziales Wohnungsbau-Projekt mit 64 Ein- bis Vierzimmerwohnungen einschließlich Tiefgarage realisieren. Am 5. November 1986 gab der Stadtrat die „Landelektra“ zum Abriss frei. Hierüber informierte die Stadt Würzburg auch das Landesamt für Denkmalpflege. Dort kam man zu der Auffassung, dass lediglich Bodendenkmalkundler für die Beobachtung notwendig seien.
Die Main-Post schrieb am 7. November 1986: „Es geht um Spuren des einstigen Markusklosters und um mögliche Überreste des jüdischen Friedhofs (auf dem Gelände des heutigen Juliusspitals), den Julius Echter einst aufgelassen hat. Viele vermuten Überreste dieser alten Nutzung auf dem zur Neubebauung anstehenden Gelände.“ Auch hieß es in dem Bericht, dass laut Abrissgenehmigung Überreste des Vorgängergebäudes gesichert, sorgfältig ausgebaut und an geeigneter Stelle gelagert werden müssten.
Denkmalschützer waren schnell vor Ort
Doch als Rudolf und Marianne Erben, beide Mitglieder im „Initiativkreis zur Erhaltung historischer Denkmäler in Würzburg“, zur Baustelle kamen, fanden sie etwas anderes vor. Karlheinz Müller zitiert im 2011 erschienenen dreibändigen Kompendium über die Grabsteine aus einem Brief der beiden vom 9. Januar 1987: „Wir besichtigen am Nachmittag nach Arbeitsschluss die Abbruchstelle und finden zwischen den Abbruchmaterialien, von leichtem Schnee bedeckt, zahlreiche Grabsteinfragmente und Grabsteine. Einen zwei bis drei Hände großen Stein nehmen wir mit. Diesen bringen wir am 10. Januar zu unseren Nachbarn David Schuster und seiner Frau Anita.“
Entsetzen über die Abrissarbeiten
Natürlich fürchtete der Bauherr, dass umfassende denkmalschützerische Maßnahmen den Baufortschritt aufhalten könnten. Auf der anderen Seite forderten Denkmalschützer wie der Architekt Jörg Lusin und Heiner Reitberger alles zu tun, um die Grabsteine zu retten. Auch der damalige CSU-Landtagsabgeordnete Walter Eykmann wurde eingeschaltet. Auf dessen Initiative kam Landeskonservator Michael Petzet vom Landesamt für Denkmalpflege an die Baustelle – und war entsetzt.
„Ich verstehe nicht, wie man im 20. Jahrhundert einen solchen Abriss durchführen kann, mir graust das“, wird er in Zeitungsberichten zitiert. Die Würzburger Bauaufsicht ließ daraufhin die Abrissarbeiten bis auf weiteres einstellen.
In den nächsten Wochen und Monaten wurde in der Stadt erbittert über die Grabsteine diskutiert. Auf der einen Seite wurde gefordert, die stehen gebliebenen Reste der „Landelektra“ so vollständig wie möglich zu erhalten und das Bruno-Werk zu einem Verzicht auf den Neubau zu bewegen. Eine andere Forderung war, das Volumen der Baumaßnahme zu verringern und die Steine in Handarbeit abzutragen. Im August verständigte man sich auf den zweiten Vorschlag. Einige Mauern wurden nicht abgebrochen und in den Neubau integriert. Dazu gehörte auch eine Wand, in der weitere Grabsteine vermutet wurden.
Suche nach geeigneter Lagerstätte
Inzwischen waren über 1000 Grabmäler und Fragmente aus dem Abbruchmaterial sichergestellt worden. Sie waren zunächst abseits der Baustelle gelagert worden. In Anbetracht des winterlichen Wetters mit Schnee und Frost suchte man nach einer besseren Lösung. David Schuster stellte zunächst eine Fläche auf dem jüdischen Friedhof in Lengfeld zur Verfügung. Da ständig neue Steine gefunden wurden, war die Kapazität bald erschöpft. Hilfe kam aus der Franz-Oberthür-Schule, die einen überdachten Teil ihres Hofes anbot. Im Juli wurde schließlich mit einer gemauerten Scheune im Rotkreuzhof eine längerfristige Lösung gefunden, um die Steine auch wissenschaftlich untersuchen zu können.
Im August schaltete sich die Universität ein. Sie unterstützte die ersten Forschungen finanziell und „besorgte“ weiteres Geld aus München. Damit wurden Instrumente zur Reinigung der Steine gekauft, aber auch mehrere Kameras und Scheinwerfer, um jeden einzelnen Fund zu dokumentieren. Für diese Arbeiten meldeten sich 175 Studierende der katholisch-theologischen Fakultät, die zwischen 1988 und 1994 über 4000 kostenlose Arbeitsstunden erbrachten. Auch aus Israel kam Unterstützung. Damit waren die Grabsteine, deren Wert und Bedeutung weit über Würzburg hinaus die Runde machten, zunächst gerettet.
Geschichte des Markusklosters im Dunkeln
Dass man die jüdischen Grabsteine erst so spät entdeckte, ist aus heutiger Sicht erstaunlich. Der erste urkundliche Beleg für die „Frauengemeinschaft Sankt Markus“ stammt aus dem Jahr 1244. 1271 wurde das Kloster von den Würzburger Bürgern geplündert und in Brand gesteckt. Es wurde wieder aufgebaut, brannte jedoch 1638 und 1644 noch zweimal ab. Dabei ging auch sein gesamtes Archiv verloren, weshalb man heute nicht mehr sehr viel darüber weiß. Nach der Säkularisation wurden die Klostergebäude versteigert, ein Teil der Kirche 1863 abgebrochen und der verbliebene Rest zu einem Wohnhaus umgebaut. Dieses brannte am 16. März 1945 aus, nur die Außenmauern blieben mehr oder weniger unversehrt stehen. In diese Außenmauern wurde nach dem Krieg die Elektro-Großhandelsfirma „Landelektra“ eingebaut, wobei zumindest für Laien nicht erkennbar war, dass der untere Gebäudeteil aus den historischen Mauern der Kirche bestand.
Es sei bemerkenswert, dass nach 1945 – also auch während der Errichtung der „Landelektra“ – die verbauten jüdischen Grabmäler so gut wie unentdeckt blieben, schrieb Karlheinz Müller in dem 2011 erschienenen voluminösen dreibändigen Werk „Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147 bis 1346)“.
Erste Erwähnung der Grabsteine schon 1949
Erst am 27. August 1949 war in der Main-Post eine überraschende Notiz des damaligen Direktors des Mainfränkischen Museums, Max von Freeden, zu lesen. Darin hieß es, dass im Mauerwerk der ehemaligen Kirche des Markusklosters bereits 1945 Fragmente jüdischer Steine entdeckt worden seien, die in früheren Jahrhunderten zu Reparaturen des Kirchengebäudes verwendet worden seien, nachdem der mittelalterliche Judenfriedhof aufgelassen worden war. „Die Steine dürften von dem alten jüdischen Friedhof stammen, der sich einst an der Stelle des heutigen Juliusspitals befand“, schrieb von Freeden.
Diese Mitteilung habe aber damals kaum Beachtung gefunden, so Müller. Nur der Stadthistoriker Franz Seberich habe sie bemerkt und kam – allerdings erst 1958 – darauf zurück: „In der ehemaligen Klosterkirche St. Markus sind zahlreiche zerbrochene jüdische Grabsteine als Baumaterial verwendet worden und waren 1945 durch Abbröckeln des Verputzes sichtbar“, schrieb Seberich in einem seiner „Beiträge zur Geschichte des Juliusspitals“.
Steine als Fundament von „Shalom Europa“
Das Wissen um die jüdischen Grabsteine blieb aber damals den Experten vorbehalten und verbreitete sich kaum. Umso größer war die Überraschung, als 1987 beim „Landelektra“-Abriss die zahlreichen jüdischen Grabsteine auftauchten.
Anhand der Funde konnte man anschließend viel über die jüdische Gemeinde in Würzburg erfahren. Karlheinz Müller und internationalen Experten ist es im Lauf der Jahre gelungen, alle Inschriften auf den Grabsteinen zu entziffern und zu übersetzen.
Heute lagern die Grabsteine in einem Depot im Untergeschoss des 2006 eröffneten Jüdischen Gemeindezentrums „Shalom Europa“ in der Valentin-Becker-Straße. Ihr Aufbewahrungsort bildet daher im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn das Fundament für das Zentrum und das dort integrierte jüdische Museum.