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Würzburg/Schweinfurt: Vor Gericht unglaubwürdig wegen der Therapie? Warum Opfer von Gewalt ihre psychische Gesundheit riskieren sollen

Würzburg/Schweinfurt

Vor Gericht unglaubwürdig wegen der Therapie? Warum Opfer von Gewalt ihre psychische Gesundheit riskieren sollen

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    Die psychischen Folgen einer Tat sollen erst nach der Zeugenaussage der Geschädigten vor Gericht therapeutisch behandelt werden. Eine Würzburger Fachärztin möchte das ändern.
    Die psychischen Folgen einer Tat sollen erst nach der Zeugenaussage der Geschädigten vor Gericht therapeutisch behandelt werden. Eine Würzburger Fachärztin möchte das ändern. Foto: Illustration Ivana Biscan

    Sie wollte in einem Würzburger Club feiern. Die Nacht endete in der Uniklinik. Sie hatte Drogen konsumiert, unwissentlich. In ihr Getränk hatte jemand Ecstasy gemischt. Zum Glück hatte sie nur wenige Schlucke genommen. "Es hat plötzlich komisch geschmeckt und geschäumt." Doch die Dosis war sehr hoch, die Reaktion heftig. "Die Ärzte meinten, ich hätte ins Koma fallen können, wenn ich alles getrunken hätte", sagt Anna, die anders heißt und deren Name der Redaktion bekannt ist. "Womöglich wäre ich nicht mehr erwacht", sagt Anna. Sie erstattete Anzeige.

    Seit dem Übergriff teilt sich das Leben der jungen Frau in ein Davor und ein Danach. Davor war sie unbeschwert, hatte Vertrauen zu ihren Mitmenschen. Danach kamen die psychischen Probleme: Panikattacken, Depressionen, Kontrollverlust. Und Depersonalisation, ein Zustand der Selbstentfremdung. "Ich konnte einige Wochen das Bett kaum verlassen, weil ich in ein großes Loch gefallen bin."

    Anna brach in einem Würzburger Club zusammen. Jemand hatte ihr MDMA, auch als Ecstasy bekannt, ins Getränk gemischt. Bis heute leidet sie darunter.
    Anna brach in einem Würzburger Club zusammen. Jemand hatte ihr MDMA, auch als Ecstasy bekannt, ins Getränk gemischt. Bis heute leidet sie darunter. Foto: Christian Thiele, dpa

    "Eine zeitnahe Psychotherapie hätte die Traumatisierung lindern können", sagt Dr. Marion Schowalter. Die Psychologische Psychotherapeutin und Leiterin der Trauma-Ambulanz an der Uniklinik Würzburg hat nach dem Messerangriff im Juni 2021 am Barbarossaplatz ein Hilfsprojekt initiiert: eine Akut-Traumatherapie mit der Methode EMDR.

    Die Abkürzung steht für "Eye Movement Desensitization and Reprocessing", für Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen. Es sei die "nach wissenschaftlichen Erkenntnissen effizienteste Therapie" für Menschen, die Schreckliches erlebt haben oder mitansehen mussten, sagt Schowalter. "Entscheidend ist, dass wir sie ohne lange Wartezeiten anbieten können."

    Auch Anna hätte unmittelbar nach dem Übergriff in dem Club von dieser Therapieform profitieren können. Sie studierte damals Psychologie und wusste: "Mit mir stimmt etwas nicht." Eine Therapie begann sie jedoch nicht. Eine Polizeibeamtin habe ihr davon abgeraten. "Sie sagte, es ginge um meine Glaubwürdigkeit, denn meine Zeugenaussage sei der größte Beweis."

    Schowalter: Opfer sollen vor Gericht Emotionen zeigen

    Hintergrund sei die ungeschriebene Regel, dass Gewaltopfer vor einem Prozess erstmal mit der Therapie warten sollen, "damit ihre Glaubwürdigkeit vor Gericht erhalten bleibt", sagt Marion Schowalter. "Sie sollen Emotionen zeigen, also mit Heulen und Zähneklappern vor Gericht aussagen." Die Folge seien jedoch viel zusätzliches Leid, möglicherweise eine Folgestörung und eine Chronifizierung des Traumas, erklärt die Therapeutin.  Das wiederum führe nicht nur zu einer langfristigen Belastung Traumatisierter, sondern beeinflusse in vielen Fällen auch ihr gesamtes privates und berufliches Umfeld negativ.

    Gewaltopfer Viktoria hat sich schnell therapeutische Hilfe gesucht

    Auch Viktoria wurde Opfer eines Verbrechens. Doch sie suchte  – anders als Anna – schnell Hilfe. 

    Die junge Frau wurde in ihrer Wohnung von einem Mann brutal niedergeschlagen. Mit schweren Kopfverletzungen und quälenden Ängsten lag sie sieben Tage auf der Intensivstation. Ein Polizist habe sie im Krankenhaus über Hilfsangebote informiert, unter anderem über die Würzburger Trauma-Ambulanz, erzählt sie im Gespräch. Wie Anna will sie anonym bleiben, die Redaktion kennt ihren vollen Namen.

    "Ich fühlte mich kraftlos, machtlos, innerlich wie tot."

    Viktoria, Opfer einer brutalen Gewalttat

    Ihr sei klar gewesen, dass das, was sie erlebt hatte, sie psychisch stark beeinträchtigen wird. Der Täter habe sie umbringen wollen, sagt Viktoria. "Ich fühlte mich kraftlos, machtlos, innerlich wie tot." In der Klinik hatte sie das Personal gebeten, für sie in der Trauma-Ambulanz anzurufen. Noch im Krankenhaus wurde sie mit der EMDR-Methode behandelt.

    Schon nach einer Therapiesitzung sei es ihr besser gegangen, schildert die damals schwer traumatisierte Frau heute. Ihre Angst habe sich in das Gefühl gewandelt, überlebt zu haben: "Er hat es nicht geschafft, mich zu töten. Ich habe gekämpft. Ich habe es geschafft. Ich lebe noch. Ich habe gewonnen."

    Psychotherapeutin Dr. Marion Schowalter will mit ihrer Idee des "Würzburger Modells" erreichen, dass Betroffene von Gewalt noch vor ihrer Zeugenaussage vor Gericht therapeutische Unterstützung erhalten.
    Psychotherapeutin Dr. Marion Schowalter will mit ihrer Idee des "Würzburger Modells" erreichen, dass Betroffene von Gewalt noch vor ihrer Zeugenaussage vor Gericht therapeutische Unterstützung erhalten. Foto: Thomas Obermeier

    "Meine Kollegin ist gleich zu ihr auf die Intensivstation gefahren und hat noch im Krankenhaus mit der Therapie begonnen", erinnert sich Marion Schowalter. Aber erst, nachdem Viktoria von der Polizei vernommen worden war. "Das war uns wichtig."

    Als ihre Rechtsanwältin von der Therapie erfuhr, sei sie sehr besorgt gewesen, dass dies den Prozess beeinflussen könnte, sagt Viktoria. 

    Zwei Fälle - zwei unterschiedliche Schicksale

    Aber: Stimmt es wirklich, dass schwer traumatisierte Opfer von Gewalttaten vor ihrer Aussage vor Gericht keine therapeutische Hilfe erhalten sollen, weil dies ihre Glaubwürdigkeit infrage stellt? 

    Ein Vorurteil gerade in Justizkreisen sei, dass Psychotherapeuten ihren Patienten Erinnerungen suggerierten und die Betroffenen Erinnerungsinhalte vergessen würden, meint Schowalter: "Aber gerade bei EMDR gibt der Therapeut keine Impulse von außen." Jegliche Suggestion von Therapeutenseite sei ausgeschlossen. Im Gegenteil, erklärt die Psychotherapeutin: "Traumainhalte werden nach EMDR sogar genauer erinnert, da sie nicht mehr als so bedrohlich wahrgenommen werden." Das sei für Betroffene sehr entlastend.

    "Wir wollen niemand in Not leiden lassen."

    Psychotherapeutin Dr. Marion Schowalter

    Ziel der Würzburger Psychotherapeutin ist: "Wir wollen niemanden in Not leiden lassen, so dass ein Opfer noch einmal zum Opfer wird, weil sich die Traumasymptome verschlimmern." Im Fall von Viktoria sei der Strafprozess gegen ihren Peiniger erst zwei Jahre später abgeschlossen gewesen, sagt Schowalter: "Was wäre das denn gewesen, wenn sie erst nach zwei Jahren therapiert worden wäre? Zwei Jahre Horror!"

    Justizministerium: Therapie-Verbot vor Prozessbeginn gibt es nicht

    Von Seiten der Justiz heißt es: Es sei wissenschaftlich nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Behandlungen die Erinnerung eines Zeugen beeinflussen können. Unverfälschte Zeugenaussagen aber seien in einem Strafprozess unerlässlich, teilt das Bayerische Justizministerium in München auf Anfrage mit. "Das Gericht muss Zeugenaussagen deshalb sorgfältig überprüfen und sicherstellen, dass diese nicht durch Dritte beeinflusst wurden." Ein Therapie-Verbot vor Prozessbeginn gebe es für traumatisierte Opfer aber nicht.

    Dementsprechend könnten Zeugen vor ihrer Aussage mit einer Therapie beginnen. Der Bundesgerichtshof fordert laut Justizministerium jedoch, dass das Gericht klären müsse, ob ein Zeuge eine Therapie erhalten hat und ob seine Aussage möglicherweise dadurch beeinflusst wird. Falls dies nicht auszuschließen sei, könne das im Zweifelsfall zu einem Freispruch führen.

    "Ich habe wirklich ein Jahr Lebenszeit verschwendet."

    Anna über ihre späte Entscheidung zu einer Therapie

    Im Fall von Anna kam es zu einem Freispruch. Dem mutmaßlichen Täter hatte nicht nachgewiesen werden können, dass er der jungen Frau die Droge in ihr Getränk geschüttet hatte. "Auf der Flasche waren zu viele Fingerabdrücke." Bei ihrer Zeugenaussage im Indizienprozess ein Jahr nach der Tat sei sie vom Gericht nicht einmal gefragt worden, ob sie eine Therapie gemacht habe. Verbittert sagt Anna: "Ich habe wirklich ein Jahr Lebenszeit verschwendet."

    Anna bereut ihre späte Entscheidung für eine Therapie

    Wenige Monate vor Prozessbeginn habe sie damals eine weitere traumatische Situation erlebt, berichtet die junge Frau: "Mehrere Männer lauerten mir vor meiner Haustüre auf, sie wollten mich womöglich einschüchtern, dass ich keine Aussage mache." Danach sei es ihr noch schlechter gegangen. Sie habe Suizidgedanken gehabt.

    Heute bereue sie, dass sie auf den Rat der Polizeibeamtin hörte, sagt Anna: "Die Folgen der Tat und die Entscheidung, keine professionelle Unterstützung anzunehmen, haben mich völlig aus der Bahn geworfen und meinen Lebensplan zerstört." Erst nachdem sie bedroht worden war, habe sie trotz der polizeilichen Empfehlung eine EMDR-Therapie begonnen. "Das war gut, aber doch etwas zu spät."

    Viktoria kann mittlerweile mit den Erinnerungen umgehen

    Viktoria wurde im Gerichtsprozess nach einer Therapie gefragt. Konsequenzen für den Prozess habe dies aber nicht gehabt, sagt sie. In ihrem Fall wurde der Täter verurteilt.

    Durch die EMDR-Therapie habe sie den Überfall nicht verdrängt. "Ich habe nicht vergessen, wie er auf mich eingeschlagen hat! Ich habe nur meine eigene Sicht auf das Geschehen verändert." Jetzt könne sie damit umgehen, wenn die Erinnerungen kommen. Sie seien nicht mehr unerträglich.

    Traumatherapie und das "Würzburger Modell"Das Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) an der Uniklinik Würzburg hat im November 2023 eine interdisziplinäre Initiative auf den Weg gebracht, "Würzburger Modell" genannt. Der Bamberger Generalstaatsanwalt Wolfgang Gründler will das Projekt auf Seiten der Justiz in Bayern weiter voranbringen, sagt Initiatorin Dr. Marion Schowalter. Das Modell sei bislang deutschlandweit einzigartig.Die Idee des "Würzburger Modells": Nach der Tat soll eine Videovernehmung des Opfers oder eine Beweissicherung und Vernehmung durch den Ermittlungsrichter stattfinden - unter Beisein des Pflichtverteidigers des Beschuldigten. Dem Opfer wird dann innerhalb der ersten zwei bis sechs Wochen und noch vor einer Gerichtsverhandlung eine Akut-Behandlung in der Trauma-Ambulanz am Uniklinikum angeboten. Therapeuten komme laut Schowalter eine besondere Rolle zu: "Sie werden mit einer Schweigepflichtentbindung vor Gericht geladen und über die Therapie berichten." Aber: Noch sei unklar, wie die Richter darauf reagieren.cj

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