Dass sie gerade vergewaltigt wurde, ist der Jugendlichen nicht bewusst. Die 16-Jährige konnte vor einem Bekannten fliehen. Nur mit einem Pullover bekleidet klingelt sie mitten in der Nacht irgendwo in Würzburg in der Nachbarschaft an einer Tür und bittet um Hilfe. Die Bewohner verständigen die Polizei. "Ich wollte das nicht mit mir machen lassen", sagt die 16-Jährige dem Beamten am Telefon. Ein junger Mann habe "versucht", sie zu vergewaltigen. Sie habe ihm daraufhin mit einem Messer in den Hals gestochen.
Wenige Straßen weiter telefoniert dieser junge Mann mit dem Rettungsdienst, er fürchtet um sein Leben. Blut rinnt seinen Hals herab. Eine Hauptvene wurde fast vollständig durchtrennt. Er überlebt und wird im Mai 2024 von der Kriminalpolizei vernommen. "Es zählt doch gar nicht als Vergewaltigung, wenn ich gar nicht ganz drin war", soll der damals 21-Jährige einem Polizisten zufolge gesagt haben.
Auch der junge Mann ist sich offenbar nicht im Klaren darüber, dass er die 16-Jährige vergewaltigt hat. Knapp ein Jahr später sitzt er als Angeklagter vor Richtern des Landgerichts Würzburg.
Verurteilt am Landgericht Würzburg: Angeklagter muss mehr als fünf Jahre ins Gefängnis
Der Staatsanwaltschaft zufolge hat der Beschuldigte die Jugendliche mit einem Messer bedroht und drang dann mit dem Finger in ihre Vagina ein. Der damals 21-Jährige gesteht dies vor Gericht. Juristisch ist der Fall eindeutig: Es war eine Vergewaltigung, nicht nur ein Versuch. Der Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Das Urteil ist bereits rechtskräftig.
Vergewaltigung wird von Juristen definiert als "sexuelle Handlung, bei der der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind", erklärt Oberstaatsanwalt Tobias Knahn. Eine sexuelle Handlung ist dabei ein Tun, das "unmittelbar der Befriedigung geschlechtlicher Bedürfnisse eines Menschen dient".

Kommt es bei sexuellen Übergriffen – also bei sexuellen Handlungen gegen den erkennbaren Willen des Opfers – zu einem Eindringen in den Körper des Opfers oder auch des Täters (!), ist dies juristisch eine Vergewaltigung. "Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch muss dabei keine körperliche Gewalt angewendet werden", erklärt Knahn. Eine Vergewaltigung könne auch dann vorliegen, wenn das Eindringen mit einem Finger oder einem Gegenstand geschehe und das Opfer dadurch "besonders erniedrigt" würde. Bei vaginalem und analem Eindringen sei dies meistens der Fall, sagt der Würzburger Oberstaatsanwalt.
Beratungsstellen verweisen auf Problematik im Sprachgebrauch und öffentlichen Bild
Doch landläufig ist der Begriff nicht so weit gefasst. Katja Grieger vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) kennt das Problem aus der praktischen Erfahrung im Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt.
Im allgemeinen Sprachgebrauch und dem öffentlichen Bewusstsein sei mit "Vergewaltigung" fast immer das Eindringen mit dem Penis in eine Vagina gemeint. "Auch in Fernsehkrimis ist das die gängige Beschreibung einer Vergewaltigung", sagt die Sprecherin. Der Verband der Frauenberatungsstellen wolle diesem Bild mit Aufklärung entgegenwirken, weil eine Vergewaltigung als Ausprägung der sexualisierten Gewalt auch andere Formen annehmen könne.
Verband: Juristische Definition ist für Betroffene zunächst zweitrangig
Häufig kämen Frauen zu einer Beratungsstelle und sagten "Mir ist da was passiert". Da sei die juristische Definition zunächst zweitrangig, sagt Grieger. In einem ersten Schritt gehe es darum, für sich selbst eine Begriffsbestimmung dafür zu finden und daraus weitere Schritte abzuleiten. Die Verbandssprecherin sagt: "Beratungsstellen und Frauennotrufe stehen den Betroffenen in den unterschiedlichen Ausprägungen von sexualisierter Gewalt zur Seite."
Was tun, wenn ein Vergewaltigungsopfer um Hilfe bittet?Betroffene einer Vergewaltigung befürchten dem Bayerischen Sozialministerium zufolge oft, auf Ablehnung oder Skepsis zu stoßen, wenn sie von ihren Erlebnissen berichten. Was tun, wenn jemand nach einer Vergewaltigung um Hilfe bittet? Der konkrete Ratschlag des Ministeriums: "Hören Sie zu. Nehmen Sie die Schilderung ernst. Zeigen Sie, dass Sie auf der Seite des Opfers stehen. Fragen Sie, was dem betroffenen Menschen jetzt guttun könnte. Wenn sie oder er einverstanden ist: Schalten Sie weitere Anlaufstellen ein - zum Beispiel: Ärztin oder Arzt, Krankenhaus, Polizei, Beratungsstelle."Quelle: Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales