Eine gesellschaftspolitische Debatte, ein Ringen mit Argumenten, ein Austausch konträrer Positionen, Abwägen und Folgern – respektvoll und sachlich. Was könnte man sich an einer Universität, gerade in einem Fach wie der Politikwissenschaft, Besseres wünschen? Gerne wird über die angebliche Passivität geklagt: Studierende gingen zu wenig in den Diskurs, in den Widerspruch – konsumierten die Lehrinhalte, anstatt sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
So gesehen hat der Kopftuch-Eklat auch etwas Positives. Das Verhalten der Professorin hat die Studierenden bewegt und solidarisiert. Das zeigen die Reaktionen im Hörsaal und im Nachgang zur Vorlesung. Wäre die Situation von Politikwissenschaftlerin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet bewusst provoziert worden, um eine Debatte zu entfachen – man müsste der erfahrenen Dozentin fast gratulieren. Aber das Gegenteil ist der Fall. Unbeabsichtigt ist ihre Vorlesung aus dem Ruder gelaufen. Und sie hat die Wirkung ihres Vorgehens völlig unterschätzt – sowohl im Hörsaal als auch im weltweiten Netz.
Was ist falsch gelaufen? Erstens hat Müller-Brandeck-Bocquet eine junge türkischstämmige Studentin vor 250 bis 300 Kommilitonen quasi zum „Duell“ gefordert – ein ungleicher, ein unfairer Kampf, für den sie sich am Freitag entschuldigt hat. Das steht ihr gut zu Gesicht. Respekt gebührt aber vor allem der jungen Muslima, die mutig und souverän ihren Standpunkt – Stichwort Religionsfreiheit – vertreten und begründet hat. Eigentlich müsste sie dafür in diesem Semester Sonderpunkte erhalten.
Professorin muss sich Reaktionen stellen
Zweitens hat die Professorin mit ihrer umstrittenen Kopftuch-Grätsche eine Vorlage geliefert für die politischen Lager der Hochschulpolitik und jene, die Rechnungen aus der Vergangenheit mit ihr begleichen wollen – oder sonstige persönliche Aversionen haben. Das erklärt manche Lautstärke des Aufschreis, erklärt Häme und Beschimpfung, die Frau „MBB“ nun über sich ergehen lassen muss. Aber das hat sie als gestandene Professorin auszuhalten, sie hat sich die Reaktionen durch mindestens fahrlässiges Verhalten selbst eingebrockt.
Ein Streit - zwei Bewertungen: Eine andere Redakteurin hält das Symbol Kopftuch für hochexplosiv.
Es handelt sich – das ist festzuhalten – um einen ungewöhnlichen Einzelfall, der nicht überhöht und schon gar nicht verallgemeinert werden sollte. Die betroffene junge Frau hatte bis dato noch keine Diskriminierung wegen ihres Kopftuches erfahren – weder im Würzburger Alltag noch an der Uni, wo sie seit eineinhalb Jahren studiert. Muslimische Studentinnen mit Kopftuch sind heute Normalität an Hochschulen in ganz Deutschland – Würzburg macht da keine Ausnahme.
Professorin Müller-Brandeck-Bocquet, Expertin für Europaforschung und französische Politik, ist alles andere als eine ausgewiesene Islamkritikerin. Insofern kommt mancher Applaus in Onlineforen von falscher Seite. Aber es stellt sich die Frage: Hätte sie eine katholische Ordensfrau unter den Zuhörern aufgefordert, ihren Habit abzulegen? Oder ein großes Kreuz über der Brust?
Interessenskonflikt zwischen Wissenschaft und Religion?
Artikel 4 des Grundgesetzes sichert die Religionsfreiheit bzw. die „ungestörte Religionsausübung“, Artikel 5 sichert die Freiheit der Wissenschaft. Ein Interessenskonflikt? Im Verständnis der Professorin muss staatlich-wissenschaftliches Arbeiten im religionsfreien Raum erfolgen – eine Trennung, die nur zu unterstreichen ist.
Allerdings besteht ein Unterschied darin, ob die Institution Hochschule (oder ihre Dozenten) religiöse Symbolik in den Hörsaal trägt oder eine einzelne Studentin, der dies aus persönlichen Motiven wichtig ist. Verbot und Zwangsüberzeugung scheiden aus. Gefragt ist hier ein universeller Wert, auch wenn dieser nicht wörtlich im Grundgesetz fixiert ist: Toleranz.