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CALAIS/ROTTENDORF: Wie ein Lkw-Fahrer plötzlich Schleuser wurde

CALAIS/ROTTENDORF

Wie ein Lkw-Fahrer plötzlich Schleuser wurde

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    Flüchtlinge blicken auf eine Autobahn in der Nähe der nordfranzösischen Stadt Calais.
    Flüchtlinge blicken auf eine Autobahn in der Nähe der nordfranzösischen Stadt Calais. Foto: Foto: afp/MP-Grafik: Jutta Glöckner

    Der 27. Februar 2015 ist der Tag, an dem Heinz Troll zum Schleuser wird – jedenfalls in den Augen der „Border Force“, des britischen Grenzschutzes. Wie so oft zuvor will der Lkw-Fahrer aus Rottendorf (Lkr. Würzburg) an diesem Tag im französischen Calais auf einer Fähre nach Großbritannien übersetzen, als die Grenzschützer zwei blinde Passagiere in Trolls Ladung finden.

    Vermutlich zwei von Tausenden Flüchtlingen, die vor der Hafenstadt in einem berüchtigten Lager hausen, das alle nur „The Jungle“ – den Dschungel – nennen. Das Schicksal der beiden Unbekannten ist unklar. Für Troll und seine Frau Heike, die die kleine Spedition führt, beginnt an diesem Februartag vor einem Jahr ein Streit mit den britischen Behörden, der bis heute anhält. Es geht um eine Strafzahlung von mehreren Tausend Pfund – „Für die Briten ist das ein riesiges Geschäft“, glaubt Heinz Troll.

    Die Geschichte und Trolls Pechsträhne beginnen schon einige Kilometer vor Calais am 26. Februar. „Normalerweise fahre ich bis Calais durch“, erklärt der Fernfahrer. So machen das viele Lkw-Fahrer, weiß Adolf Zobel, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Güterkraftverkehr (BGL). „Viele Chefs weisen ihre Fahrer an, ab der französischen Grenze bis Calais nicht mehr anzuhalten.“ Die Strecke ist berüchtigt, besonders die Zufahrt zu Hafen und Euro-Tunnel. Im Internet stößt man auf eine Flut von Videos, die unter anderem zeigen, wie Flüchtlinge Gegenstände auf die Fahrbahnen werfen, um Staus zu provozieren. Die langsame Fahrt der Lastwagenkolonnen nutzen sie dann, um auf die Fahrzeuge zu steigen und mit viel Glück heimlich nach Großbritannien zu gelangen.

    Heinz Troll vor seinem Lkw in Großbritannien
    Heinz Troll vor seinem Lkw in Großbritannien Foto: Foto: privat

    Auch Heinz Troll wird an diesem Tag aufgehalten, aber nicht von Flüchtlingen: In den Niederlanden hat sein 7,5-Tonner einen Schaden, in der belgischen Hauptstadt Brüssel gerät Troll in einen Stau. Um die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten einzuhalten, fährt der 55-Jährige mit den letzten Minuten, die er noch am Steuer sitzen darf, am Abend auf einen bewachten Autohof bei Calais. „Das Gelände war mit Stacheldraht eingezäunt, die Übernachtung kostete 14 Euro ohne Verpflegung. Ich habe mich dort sicher gefühlt“, sagt Troll. Offenbar ein trügerisches Gefühl.

    Drei Nordafrikaner auf der Ladefläche

    Als er am frühen Morgen des 27. Februar aufbricht, kommt er nur drei Kilometer weit. „Ich hörte Geräusche auf der Ladefläche“, erinnert er sich. So kehrt er zu dem Autohof zurück. „Ich habe dort zwei Männer in gelben Warnwesten angesprochen, die sich als Sicherheitskräfte ausgaben.“ Als sie gemeinsam die Plane des Lkw öffnen, springen drei Männer von der Ladefläche. „Es können Nordafrikaner gewesen sein“, sagt Troll. Festlegen will er sich aber nicht. Er will die Polizei rufen, aber die Sicherheitsleute meinen, das sei nicht nötig, und nehmen die Männer in Gewahrsam. „Also habe ich meine Ladung kontrolliert. Eine Industrielötmaschine. Weil ich nichts Verdächtiges mehr entdeckt habe, fuhr ich los.“

    Am Hafen von Calais kontrollieren britische Grenzschützer mit Hunden, Herzschlagmessgeräten und Röntgenanlagen stichprobenartig die Lastwagen auf dem Weg auf die Insel. Rund 1,8 Millionen Lkw setzen von hier aus jährlich ins englische Dover über. An diesem Tag wird gegen 6.30 Uhr aus der endlosen Schlange das Fahrzeug von Heinz Troll zur Kontrolle ausgewählt. „Ein Hund hat angeschlagen“, erinnert er sich. „Ich musste das Fahrzeug öffnen und dann in etwa zehn Meter Entfernung warten.“

    Im Innern der Maschine auf Trolls Ladefläche finden die Grenzschützer zwei weitere Männer. Einer ist sogar in Luftpolsterfolie eingewickelt. Das erzählen jedenfalls die britischen Behörden Fernfahrer Troll, der die blinden Passagiere nie zu Gesicht bekommt und auch keine Informationen zu den Männern erhält. In den zahlreichen Schreiben, die die „Border Force“ in den folgenden Monaten nach Unterfranken schickt und die der Redaktion vorliegen, ist lediglich von „clandestine entrants“ – sinngemäß heimliche Grenzübertreter – die Rede.

    "Zu dem Zeitpunkt hätte ich alles unterschrieben"

    Dass tatsächlich zwei Menschen auf seinem Lkw bis zum Hafen von Calais gefahren sind, bezweifelt Troll nicht. „Die Maschine, die ich geladen hatte, war 4,50 Meter breit, 1,50 Meter tief, knapp zwei Meter hoch. Da kann man sich drin verstecken“, sagt er. Außerdem haben die Männer während der Fahrt in Tüten uriniert, die er findet, als er wieder zu seinem Lkw gelassen wird. Doch bis dahin dauert es mehrere Stunden. Irgendwann wird ihm ein Formular unter die Nase gehalten, das er unterschreiben soll. „Zu dem Zeitpunkt hätte ich alles unterschrieben. Ich war völlig fertig und hatte einen Liefertermin einzuhalten“, sagt er zähneknirschend. Die böse Überraschung kommt ein halbes Jahr später. In einem Brief fordert die „Border Force“ die Trolls zur Zahlung einer Gesamtstrafe von 3000 Pfund auf – über 3800 Euro. Als Fahrer soll Heinz Troll 600 Pfund pro blindem Passagier zahlen, Speditionschefin Heike Troll je 900 Pfund. Ihr wird zudem vorgeworfen, sie habe als Geschäftsführerin ihren Mann und Fahrer nicht darüber unterrichtet, wie er sein Fahrzeug zu kontrollieren habe. Nach einer entsprechenden Liste, in der die sogenannten Checks aufgeführt sind, hätten die Grenzposten aber gar nicht gefragt. Nachdem das Ehepaar gegen die Strafe protestiert, reduzieren die Briten ihre Forderung gegen Heike Troll. Von der 54-Jährigen wird nun pro Flüchtling noch 500 Pfund gefordert, zu zahlen bis 14. März 2016.

    Die Situation in Calais ist längst in der Politik angekommen. So recht zuständig, fühlt man sich offenbar in Berlin aber nicht. Man wisse von den „Problemen, die für Lkw-Fahrer durch die zunehmende Anzahl von Flüchtlingen in Europa entstehen können“, heißt es lediglich aus dem Umfeld des Auswärtigen Amtes. Man stehe dazu in Kontakt mit „europäischen Partnerstaaten“.

    Und Dorothee Bär (CSU), Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesverkehrsministerium, erklärt: „Ich nehme die Situation der Lkw-Fahrer in Calais sehr ernst.“ Bereits im letzten Jahr habe das Ministerium Hinweise aus dem Gewerbe zum Anlass genommen, gegenüber den französischen und britischen Verkehrsbehörden um Schutz für Fahrer und Fahrzeuge vor Ort zu bitten. „Wir wurden daraufhin über eine Reihe von Maßnahmen informiert.“

    Adolf Zobel vom Bundesverband Güterkraftverkehr bestätigt das. Die Situation für die Fahrer habe sich zuletzt etwas entspannt, etwa weil der Hafen und die Zufahrten zum Euro-Tunnel nun besser abgeschirmt seien. „Außerhalb der Umzäunungen ist es in Calais aber überall möglich, dass ein blinder Passagier aufsteigt. Sicherheit gibt es nicht“, betont er. Wie die insgesamt fünf Männer auf Heinz Trolls Lkw gekommen sind, ist unterdessen unklar. „Sie müssen ja schon auf dem Autohof eingestiegen sein“, so Troll. „Vermutlich haben sie die Plane geöffnet, als ich mir einen Kaffee geholt habe, und sind so auf die Ladefläche gekommen.“ Dann hätten sie aber Komplizen außerhalb des Lkw haben müssen. „Von innen kann man die Plane nicht wieder verschließen“, sagt Troll. „Vielleicht stecken die angeblichen Sicherheitskräfte des Autohofs mit drin.“

    Fahrer und Unternehmen werden wie Schleuser behandelt

    Doch solche Hintergründe scheinen die britischen Behörden in Calais ohnehin nicht zu interessieren. „Wenn bei der Kontrolle ein Flüchtling auf einem Lkw erwischt wird, werden Fahrer und Unternehmen wie Schleuser behandelt“, sagt Zobel. „Hier gibt es keine Unschuldsvermutung, stattdessen muss der Fahrer seine Unschuld nachweisen.“ Damit es gar nicht so weit kommt, können Lkw-Fahrer „ihr Fahrzeug kostenfrei von Polizeihunden kontrollieren lassen, bevor ein Kontrollpunkt erreicht wird, wo beim Auffinden von Flüchtlingen im Fahrzeug Geldstrafen verhängt werden“, informiert das Bundesverkehrsministerium auf Nachfrage. Doch sicher ist man damit offenbar nicht: „Trotz freiwilliger Vorabkontrolle werden bei den Endkontrollen immer wieder Flüchtlinge an Bord gefunden“, sagt Adolf Zobel.

    Heinz Trolls Geschichte kann also kein Einzelfall sein. Oder doch? Zwar sind dem BGL Geschichten, die der von Heinz Troll stark ähneln, reichlich bekannt. Und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt ist sogar so alarmiert, dass er sich bereits im letzten Jahr innerhalb der Bundesregierung dafür eingesetzt habe, zusätzlich zu den bilateralen Bemühungen in Richtung Frankreich auch auf EU-Ebene tätig zu werden. Schließlich handele es sich hier inzwischen um ein „gesamteuropäisches Problem mit Aspekten aus den Bereichen Justiz und Inneres, Transport, Dienstleistungsfreiheit und freier Warenverkehr“, heißt es aus seinem Haus. Dennoch weiß das Dobrindt-Ministerium laut Bär nur von einem einzigen Fall – vielleicht ist es die Geschichte von Heinz Troll –, „wo in einem deutschen Fahrzeug in Calais Flüchtlinge aufgefunden und durch die britischen Behörden Strafen verhängt wurden.“

    Kann das sein? Heinz Troll grinst: In Fahrerkreisen kursiert die Zahl von täglich 100 Flüchtlingen, deren Fahrt als blinde Passagiere an der französisch-britischen Grenze in Calais endet. Ob die Zahl stimmt und wie oft gegen deutsche Fahrer Strafen verhängt werden, kann er natürlich nicht sagen.

    Das Dilemma am Ärmelkanal ist groß. „Die Lage der Flüchtlinge in Calais ist problematisch“, betont Zobel. „Aber das Problem kann nicht auf unserem Rücken ausgetragen werden.“ Im Moment haben Heike und Heinz Troll den Ärger. „Wir zahlen nicht“, sagen sie, ohne Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen zu lassen. „Für kleine Unternehmer ist eine solche Strafe existenzbedrohend.“ Wenn die britischen Behörden Strafen verhängen, empfiehlt Staatssekretärin Bär den Fahrern und Unternehmen, „den Rechtsweg einzuschlagen“. Diesen Schritt scheuen Heinz und Heike Troll noch. Sie fürchten die hohen Anwalts- und Gerichtskosten.

    „The Jungle“

    Bis zu 5000 Menschen lebten laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) Anfang Februar in dem inoffiziellen Flüchtlingslager im nordfranzösischen Calais, das „The Jungle“ genannt wird. Vor allem die Lebensbedingungen von Kindern bereitet dem UNHCR Sorgen. Berichte sprechen von „Slum-ähnlichen“ Bedingungen. Der Großteil der Flüchtlinge kommt aus dem Sudan, Afghanistan, Eritrea, Irak oder Syrien. Viele von ihnen wollen nach Großbritannien. Immer wieder versuchen Flüchtlinge, sich auf der nahe gelegenen Autobahn Zugang zu Lkw auf dem Weg zur Grenze zu verschaffen. Mehrfach kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nun soll ein Teil des Camps geräumt werden. Aber keine 50 Kilometer von Calais entfernt, bei Dunkerque, leben weitere 2500 Flüchtlinge.

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