Ich erinnere mich an Amy und ihre Schwester. Sie saßen in dem klapprigen Chevy vorne. Amy am Steuer. Wir dösten auf den Rücksitzen. Aus dem Autoradio dröhnte Rockmusik. Doch davon bekamen der Erlenbacher Charly Wagner, Vivian Huizenga aus Kanada und ich nichts mit. Es war der Abend des 9. November 1989. Ein Donnerstag. Wir waren auf dem Highway I-87 gen Süden unterwegs, vorbei an New York City und Philadelphia. Es war das erste lange Wochenende seit unserer Ankunft in den Staaten. Die letzten Monate hatten wir nur gelernt, auch an allen Wochenenden. Das neue Studium, die fremde Sprache - all das brauchte seine Zeit. Auch die Samstage und Sonntage verbrachten wir mit anderen internationalen Studenten in der Unibibliothek.
Charly und ich waren neu an der Universität in Albany. Dank eines Stipendiums von der Würzburger Julius-Maximilians-Universität durften wir dort im Master-Programm Wirtschaftswissenschaften studieren und so ganz nebenbei die Welt erobern. Alles gefiel uns: die Lernzirkel unter den Studierenden, der schulmäßige Unterricht, unsere Wohngemeinschaft, neue Freundschaften, und, und, und…
Unser neues Leben war nun das Amerikanische!
Von der Situation in Deutschland, der früheren Tschechoslowakei und Ungarn bekamen wir kaum etwas mit. Wollten wir auch gar nicht. Unser neues Leben war nun das Amerikanische! Und die US-Medien berichteten nur dürftig über Europa, vielmehr fokussierten sie sich auf lokale Nachrichten oder auf Lateinamerika. Internet, E-Mails, Smartphones, das war noch die Zukunft, von der wir damals noch nichts ahnten.

Abenteuerlustig waren wir und steckten voller Reiselust und Entdeckungsgeist. Begeistert nahmen wir die Mitfahrgelegenheit mit Amy ins etwa 560 Kilometer entfernte Washington D. C. an. Gegen 18 Uhr waren wir losgefahren und hofften, am frühen Freitagmorgen in der amerikanischen Hauptstadt anzukommen.
Abenteuerlustig waren wir und steckten voller Reiselust und Entdeckungsgeist
Die beiden Schwestern hatten sich gerade am Steuer abgewechselt, als wir von einem Schrei geweckt wurden. Nachrichten aus Deutschland unterbrachen die Rockröhren. Es war mitten in der Nacht auf einer leeren Autobahn im Nirgendwo. „Das gibt’s nicht“, brüllte Amy und drehte die Lautstärke auf. „Menschen tanzen auf der Mauer in Berlin!“, wiederholte der Sprecher. Wir dachten an einen Scherz und schlossen wieder die Augen. Vor Morgengrauen kamen wir in Washington D. C. an und konnten bei Amys Freunden den Rest der Nacht verbringen.
Auch später hörten wir immer wieder die gleichen Nachrichten: „Berlin Wall is falling!“. Gleich nach dem Einchecken in die Jugendherberge am Vormittag war unser Ziel die Deutsche Botschaft. Wie waren wir aufgeregt! „Die Ostdeutschen können seit gestern gehen, wohin sie wollen“, kommentierte ein Konsulatsbeamter nüchtern unsere Frage. „Warum zum Teufel gucken die so ernst?“, fragte uns Vivian. „Das ist doch ein Grund zur Freude! Doch die verziehen tatsächlich keine Miene.“
Der Abend in einem Pub im Studentenviertel Georgetown war übermütig und fröhlich
In der Botschaft konnten wir schließlich die neuesten Schlagzeilen lesen und die Fernsehnachrichten verfolgen. War es nur ein Traum? „Emotionslos, kühl und unaufgeregt“, beschreibt Charly Wagner noch heute die damalige Stimmung in der Deutschen Botschaft. In der Tat: Nach all dem hatten wir Jubel erwartet, vielleicht eine Feier. Nichts passierte!

Ernüchtert begannen wir das, was wir eh machen wollten: Sightseeing. Capitol, Luft- und Raumfahrtmuseum, Weißes Haus, Kennedy-Grab auf dem Arlington-Friedhof. Erst der Abend in einem Pub im Studentenviertel Georgetown war übermütig und fröhlich. Mit amerikanischen Studenten stießen wir auf die neue ostdeutsche Freiheit an. Der Fernseher über der Bar zeigte unaufhörlich flimmernde Bilder von jubelnden Menschen auf und vor der Berliner Mauer. Staunend verfolgten wir die ersten Wagenkolonnen Richtung West-Berlin.
Wir fühlten uns wie auf einem fernen Planeten
Am nächsten Tag, Sonntag, zogen wir an Demonstrationen von Vietnam-Veteranen und Abtreibungsbefürwortern (Pro Choice) vorbei. Washington D.C. brodelte ebenso wie die Gedanken in unseren Köpfen. Wir fühlten uns wie auf einem fernen Planeten mit dem Bewusstsein, dass zuhause gerade Weltgeschichte geschrieben wird. Was für ein seltsames Gefühl.
Am Spätnachmittag fuhren wir mit Amy und ihrer Schwester nach Albany zurück. Das Radio im alten Chevy spuckte nun schon viel weniger Neues über Deutschland aus. Nach Mitternacht kamen wir zuhause an. Bis in die frühen Morgenstunden liefen dann die Telefondrähte unseres Festnetzapparates heiß. Es gab ja noch einen Teil meiner Familie in Ostdeutschland. Ich erfuhr, wie es ihnen erging und verbrachte selbst die nächsten Tage wie im Rausch. Glauben konnte ich an das vereinte Deutschland erst, als ich 1991 wieder nach Würzburg zurückkam.