Der Kontrast konnte kaum größer sein: Hier die 73-jährige Malerin Gertraud Rostosky, die auf ihrem Gutshof "Zur Neuen Welt" am Leutfresserweg Freunde wie den Maler Joachim Schlotterbeck zum Kaffeekränzchen auf der Terrasse empfing. Dort die zwölfjährige Sieglinde Ullrich, die ab 1949 in einer Notwohnung im ehemaligen Schweinestall der "Neuen Welt" lebte und sich scheute, Schulkameradinnen einzuladen.
Sieglindes Vater war 1946 in russischer Gefangenschaft gestorben, der achtjährige Bruder im selben Jahr tödlich verunglückt. Im Mai 1949 bezog Sieglinde mit ihrer Mutter, der Schwester Margot und dem Großvater eine Notwohnung am Leutfresserweg. Die Wände bestanden aus dünnen Sperrholzplatten, in direkter Nähe wurde eine Ziege gehalten und nach der Reinigung von deren Stall türmte sich der Mist unter dem Küchenfenster.

"Die Wohnung war wirklich notdürftig", schrieb die nunmehrige Sieglinde Johnston, die einen Engländer geheiratet hatte, im Jahr 1999 in ihren Memoiren. "Selbst das Wasser musste eimerweise unten vorm Haus von einem Haupthahn geholt werden. Erst Monate später wurde die Installation von Wasser und Klo vorgenommen." Der Gutshof war voller Ausgebombter. "Vierköpfige Familien wohnten in einem Zimmer", erinnerte sich Sieglinde. "Man trennte mit Decken und Sperrholz die Wohnecke von der Schlafecke."
Am 16. März 1945 tötete ein Großangriff der Royal Air Force rund 3600 Menschen
Schon in den letzten Wochen vor dem 16. März 1945 hatte es kein einigermaßen normales Leben in Würzburg mehr gegeben. Nächtliche Bombenangriffe töteten Hunderte von Menschen und zerstörten viele Häuser. Zahlreiche Würzburger misstrauten den brüchigen Kellern und verließen abends ihre Wohnung, übernachteten in Notunterkünften am Stadtrand oder bei Verwandten in einem Nachbarort; am Morgen kehrten sie zurück. Doch andere blieben oder mussten bleiben.
Am Abend des 16. März 1945 tötete ein Großangriff der Royal Air Force rund 3600 Menschen und zerstörte auf einen Schlag 75 Prozent der Wohnungen. Zunächst blieben nur etwa 5000 Männer, Frauen und Kinder in Würzburg, die in erhaltenen Gebäuden am Stadtrand, in notdürftig abgedeckten Ruinenkellern, Gartenhäusern und Hütten hausten. Die anderen wurden in Gemeinden der Umgebung gebracht, wo sie als "Außenbürger" jahrelang bis zur Rückkehr ausharrten.

Zehn Tage nach der Bombardierung kehrte in der Nacht zum 27. März 1945 der 16-jährige Helmut Försch von einem Einsatz beim Reichsarbeitsdienst nach Würzburg zurück. Unter Missachtung eines entsprechenden Befehls meldete er sich nicht bei der Reichswehr, sondern hielt in Grombühl Ausschau nach seiner Familie, deren Wohnhaus zerstört war. Im Alter schrieb er das Erlebte auf: "An die Häuser hatten die Überlebenden oft letzte Nachrichten für ihre Angehörigen und Freunde geschrieben. 'Wir sind bei Onkel Franz in Dürrbach', 'Familie Kraus – sind in Rimpar' etc., und nach einer solchen Nachricht suchte ich auch. Nichts, am ganzen Haus kein Wort."
Am Tag darauf fand Helmut Försch die Mutter und die beiden jüngeren Brüder im Naturfreundehaus bei Veitshöchheim. "'Helmut, jetzt sin mehr ganz arm, mir ham gar nix mehr, alles is verbrennt' war alles, was sie herausbrachte", zitierte Försch die Mutter in seinen Lebenserinnerungen.
Zahlreiche Wohnungslose hatten sich ins Luitpoldkrankenhaus geflüchtet
Am 25. April 1945 ging der 31-jährige Domkaplan Fritz Bauer durch die Stadt und sah Rauchfähnchen, die aus den Trümmern aufstiegen. Er kletterte durch eine Ruine. In seinem Tagebuch lässt sich sein Erstaunen nachlesen: "Was entdecke ich? Ein Ofenrohr, das knapp einen Meter aus einem Kellerloch ragt. Dann höre ich gedämpfte Stimmen aus der Tiefe. Das Geheimnis lüftet sich. Bewohner haben sich im Keller eines ausgebrannten und eingestürzten Hauses eingerichtet. Sie hatten ein Öfchen oder einen Herd aus den Trümmern gescharrt und Feuer gemacht. Das verbeulte und rostige Rohr leitet den Rauch ins Freie."

Ende des Jahres 1945 lebten schon wieder rund 53.000 Menschen in Würzburg. Jedes Gebäude, das irgendwie zum Wohnen genutzt werden konnte, war voll. So hatten sich zahlreiche Wohnungslose ins Luitpoldkrankenhaus geflüchtet. In der Frauenstation der Chirurgischen Klinik lebten in Krankenzimmern drei Professorenfamilien. Lukra-Direktor Werner Wachsmuth stellte sich darauf ein: "Es bedurfte besonderer Vorsicht, um bei der täglichen Visite nicht aus Versehen in die Intimsphäre eine Familie hineinzugeraten."

Zusätzlich dramatisch wurde die Lage dadurch, dass tausende Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in der Stadt untergebracht werden mussten. Sie lebten zunächst oft in stehengebliebenen Schulen, sodass viel Unterricht ausfiel, bevor die Regierung von Unterfranken regelrechte Baracken-Flüchtlingslager in Heidingsfeld und am Galgenberg einrichtete.
1946 kamen viele Frauen der in Würzburg stationierten US-Offiziere nach
Zu Beginn des Jahres 1946 beschloss die amerikanische Besatzungsmacht, die Frauen der in Würzburg stationierten US-Offiziere nachkommen zu lassen. Die Folge waren zahlreiche Beschlagnahmen von Häusern, vor allem im Frauenland, dem einzigen Stadtteil mit halbwegs intaktem Wohnraum. Die Wohnungsnot verschärfte sich jetzt dramatisch: Ende April 1946 waren 2800 Zimmer in Würzburg mit je sechs, 3450 Zimmer sogar mit sieben Personen belegt. Die Stadtverwaltung warnte vor einer erschreckenden Zunahme von Tuberkulose "in der unzulänglich ernährten und in unhygienischen Wohnungen hausenden Bevölkerung".

Um schnell Wohnraum zu schaffen, zogen Genossenschaften, darunter das kirchliche St. Bruno-Werk, am Rand der Innenstadt Häuser hoch. Die 1934 gegründete "Gemeinnützige Baugesellschaft für Kleinwohnungen", die später in der Stadtbau aufging, hatte sofort nach Kriegsende begonnen, ihre durch Bomben beschädigten Gebäude instand zu setzen. Am 1. Januar 1950 waren 478 Wohnungen bezogen und in diesem Jahr kamen noch 171 "Wiederaufbauten" und 104 Neubauten hinzu. In den 1950er-Jahren beteiligte sich die "Gemeinnützige" dann mit mehreren Projekten am Wiederaufbau der Zellerau. In der Fasbenderstraße erwarb sie ein Grundstück, auf dem 75 Wohnungen für Außenbürger gebaut wurden.
1955 überschritt die Bevölkerungszahl erstmals seit 1945 wieder die Grenze von 100.000
Im Sommer 1945 kam Helmut Förschs Vater aus der Gefangenschaft zurück und 1948 zog die Familie aus dem Naturfreundehaus endlich wieder nach Grombühl. Freilich fehlte in der neuen Behausung ein Badezimmer. "Es dauerte sehr lange, bis alle Haushalte mit diesem Attribut moderner Hygiene ausgestattet waren", schrieb Försch später: "In vielen Wohnungen war zwar ein Raum dafür vorgesehen, auch mit den Anschlüssen versehen, aber nicht eingerichtet und als Wohnraum genutzt."
Für die rund 1100 Vertriebenen im "Regierungs-Flüchtlingslagers Galgenberg" entstanden 1951 mit Unterstützung der Bundesregierung neue Wohnhäuser links und rechts der Frankfurter Straße, die in den letzten Jahren von der Stadtbau saniert bzw. durch Neubauten ersetzt wurden. Am Ort des ehemaligen Lagers befindet sich heute der Campus Hubland Nord der Uni.

Im Jahr 1955 überschritt die Würzburger Bevölkerungszahl erstmals seit 1945 wieder die Grenze von 100.000; es kamen 2269 Wohnungen hinzu, 1956 immerhin 2568. In eine in der Weingartenstraße neugebauten Dreizimmerwohnung zog im Mai 1956 Sieglinde Johnston samt Mutter, Schwester und Großvater aus der "Neuen Welt" um. "Wir waren alle überglücklich", erinnerte sie sich. "Wir mussten uns nicht mehr genieren, junge Freunde einzuladen."
Der Artikel basiert auf dem kürzlich erschienenen Buch "Wohnen in Würzburg. Neunzig Jahre Stadtbau" und ist der dritte einer vierteiligen Serie. Nächste Folge: In der Lindleinsmühle und auf dem Heuchelhof entstehen in den 60er- und 70er-Jahren völlig neue Stadtviertel.