"Das war eine Angst, dafür gibt es gar keine Begriffe", erinnert sich Auguste Burger. Die 91-Jährige hat den Wohnzimmertisch in ihrer kleinen Wohnung in München-Giesing liebevoll gedeckt und frischen Kaffee gekocht. Jetzt sitzt die zierliche Frau in ihrem großen Sessel und erzählt lebhaft von einem traumatischen Erlebnis, das nun schon 75 Jahre hinter ihr liegt: Die Würzburger Bombennacht am 16. März 1945.
Es ist eine schmerzhafte Erinnerung, die sie lange ganz weit hinten im Gedächtnis sicher verstaut hatte. Eine Erinnerung, die sie erst vor wenigen Jahren auf Drängen ihrer Großnichte erstmals aufgeschrieben hat. Und eine Erinnerung, von der die immer noch sehr resolute Frau nun aber unbedingt berichten möchte: Es ist ihre ganz persönliche Geschichte zum schweren Bombenangriff auf Würzburg, den die damals 16-Jährige zusammen mit ihrer älteren Schwester Maria erlebt hat.
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Am 16. März 1945 nur durch Zufall in Würzburg
Eigentlich sei sie nur durch einen Zufall "in diesen ganzen Trubel hinein geraten", erzählt Burger in ihrem Wohnzimmer: Geboren 1928, aufgewachsen in Marktbreit, zwölf Geschwister, der Vater Beamter bei der Reichsbahn. "Wir waren als Kinder oft in Würzburg, weil wir als Eisenbahner viele Freifahrtscheine für den Zug hatten." Die vielen schönen Kirchen im alten Würzburg beeindruckten bei diesen Besuchen die kleine Auguste. Auch Kiliani-Besuche und Konzerte im Hofgarten sind ihr noch gut im Gedächtnis. Wenn es nach Würzburg ging, habe es in der Familie immer geheißen: "Wir fahren in die Stadt", erinnert sie sich.
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Ab 1943 ist Auguste Burger dann regelmäßig in Würzburg: Sie besucht die Städtische Handelsschule, pendelt täglich zwischen Marktbreit und der Domstadt. Zunächst war die Schule in der Münzstraße untergebracht. Als dort 1944 ein Lazarett eingerichtet wurde, zog die Schule in die Maxstraße um. In ihren schriftlichen Aufzeichnungen erinnert sich Auguste Burger an ihre Schulzeit in Würzburg:
"Bis zum Herbst 1944 verlief alles noch normal. Ende 1944 wurden dann die Jungens aus der Schule zum Militärdienst eingezogen oder wurden Luftwaffenhelfer. Wir Mädchen hatten noch halbwegs Unterricht. Da die meisten von uns Fahrschülerinnen (wie ich) waren, kamen wir oft erst um 9 Uhr oder später zum Unterricht. Öfters war dann bald Fliegeralarm, so dass sich das Unterrichtsgeschehen im Luftschutzkeller abspielte. Im Februar 1945 wurde der Unterricht ganz eingestellt. Die Abschlussprüfung sollte Ende März 1945 erfolgen, was dann aber nicht mehr möglich wurde. Mehrere Tage im Februar und noch Anfang März 1945 wurde ich von meinem Wohnort aus zu allen möglichen Einsätzen herangezogen, so z. B. zum Kartoffelschälen und Gemüseputzen in einer Suppenküche für Flüchtlinge und Ausgebombte in der nahen Kreisstadt Kitzingen."

Die einstige Handelsschule heißt heute Städtische Wirtschaftsschule – und beschreibt diese unruhige Zeit in der eigenen Schulgeschichte wie folgt:
"Am 11. Dezember 1944 begannen die Weihnachtsferien und als diese zu Ende waren, blieb die Schule wegen Mangel an Heizmaterial geschlossen. Wegen der Bombenangriffe stellte die Regierung von Mainfranken später den Unterricht ganz ein. Nur die Oberklasse der Handelsschule erhielt eine Ausnahmegenehmigung. In Wirklichkeit aber fand nur noch wenig Unterricht statt. Kaum hatte der Unterricht begonnen, ertönte die Luftschutzsirene und Lehrer und Schüler flüchteten in den nahe gelegenen öffentlichen Luftschutzraum. Auswärtige Schüler konnten wegen der Tieffliegerangriffe kaum mehr erscheinen. Die restlichen Schüler konnten bestenfalls noch eine Notabschlussprüfung ablegen."
Wie soll man einen Aufsatz schreiben im Luftschutzkeller?
"Wir sollten im Luftschutzkeller tatsächlich Aufgaben erledigen", erinnert sich Auguste Burger in ihrem Wohnzimmer-Sessel: "Wir mussten zum Beispiel einen Aufsatz schreiben." In der Enge des Bunkers, mit dröhnenden Sirenen im Hintergrund und dem Heft auf den Knien, für sie eine unlösbare Aufgabe, erzählt die alte Dame: "Ich habe da nur auf meinem Bleistift herumgebissen." An regulären Unterricht oder gar an Prüfungen sei jedenfalls nicht mehr zu denken gewesen.
Am 13. März 1945, einem Dienstag, fuhr Auguste Burger erneut von Marktbreit nach Würzburg – diesmal um ihrer älteren Schwester Maria zu helfen. Maria war Nonne und arbeitete für die Diözese Würzburg. "Dort hat sie Dr. Georg Angermaier kennengelernt und später dann Frau Angermaier sowie deren drei Kinder als Haushaltshilfe versorgt", erinnert sich Auguste Burger.

Angermaier war eine wichtige Person des katholischen Widerstands gegen die Nazi-Diktatur. Er arbeitete zunächst als Justiziar der Diözese Würzburg und war später auch in Kontakt mit der Widerstandsgruppe des "Kreisauer Kreises". Im März 1945 war er als Wehrmachtssoldat nahe Berlin stationiert – und kam dort am 27. März 1945 unter bis heute ungeklärten Umständen bei einem Verkehrsunfall mit einem SS-Fahrzeug ums Leben.
Angermaiers Familie war Anfang März aus Würzburg in die Hassberge umgezogen. Auguste und Maria sollten nun noch einigen Hausrat aus der Wohnung holen, die nach Auguste Burgers Erinnerung an der Randersackerer Straße lag. "Am 16. März war nur noch die Wohnung in Würzburg aufzuräumen, denn am nächsten Tag, dem 17. März, wollten wir zu unserer Familie nach Marktbreit", schreibt sie in ihren Erinnerungen:
Der Schutz-Keller hatte einen Ausgang direkt ins Freie
„Am Abend (die genaue Uhrzeit kenne ich nicht mehr) machten wir uns auf den Weg zu den Eltern von Dr. Angermaier, die in der Nähe des Sanderrasens wohnten, um noch einige Sachen und Schlüssel abzugeben. Kaum waren wir dort, es mag zwischen 19 und 20 Uhr gewesen sein, ging die Sirene, d.h. es war Fliegeralarm – zunächst nur 'Voralarm'. Für den Rückweg wollten wir die Entwarnung abwarten. Dann kam kurz nach 21 Uhr für die Würzburger Bevölkerung 'Vollalarm'. Der alte Herr Angermaier forderte uns sofort auf, mit ihm in den Keller zu gehen. Es war kein richtiger Luftschutzkeller und schon gar kein Bunker. Das Kellergewölbe war niedrig, vielleicht zwei Meter hoch, und garantierte durch mehrere Raumunterteilungen eine gewisse Stabilität des Mauerwerks. Für die sich anbahnende Situation erwies sich die Kellertüre, mit einigen Stufen nach oben, direkt ins Freie, als wahrer Glücksfall. Wir hörten Geräusche von vielen Flugzeugen. Herr Angermaier wagte über die Kellertüre einen Blick nach draußen und brachte die erschreckende Nachricht: 'Die haben Christbäume angezündet'. Das ist so zu verstehen: Die Aufklärungsflieger haben als Markierung der Ziele über der Stadt Leuchtraketen abgeschossen."
Zwar hatte es zwischen Anfang Dezember 1944 und Anfang März 1945 insgesamt acht kleinere Luftangriffe auf Würzburg gegeben. Trotzdem glaubten viele Bewohner bis zum 16. März 1945, ihre Stadt würde von einem Großangriff aus der Luft verschont bleiben, da sie viele Krankenhäuser und Lazarette hatte und über keine nennenswerte kriegswichtige Industrie verfügte.
In der Tat tauchte die Stadt erst Anfang Februar 1945 auf einer britischen Liste für mögliche Flächenbombardements als sogenanntes "Füll-Ziel" auf. Am 16. März ab 17 Uhr starteten dann insgesamt 225 Lancaster-Bomber und elf Mosquito-Bomber der britischen Luftwaffe von mehreren englischen Stützpunkten in Richtung Würzburg.
Mehr als 900 Tonnen Bomben fielen auf die Stadt
Um 21.25 Uhr begann die Markierung des Würzburger Stadtgebietes mit rund 2000 Leuchtbomben an kleinen Fallschirmen – im Volksmund "Christbäume" genannt. Um die Zerstörungswirkung zu erhöhen, erfolgte die Bombardierung schließlich zeitversetzt in Sektoren. In nur sieben Minuten – zwischen 21.35 Uhr und 21.42 Uhr - wurden zuerst 256 schwere Sprengbomben und Luftminen und dann über 300 000 Stabbrandbomben über der Stadt abgeworfen – insgesamt trugen die Maschinen mehr als 900 Tonnen Bomben. Neue Schätzungen gehen von etwa 3600 Toten durch den Angriff aus.
Ich habe meine Angst raus geschrien. Doch die Sprengbomben, die Einschläge, die waren noch viel lauter.
Auguste Burger über den 16. März 1945
Auguste Burger beschreibt, wie sie diese dramatischen Minuten in ihrem Kellerversteck in der Sanderau erlebte:
"Dann fielen auch schon die ersten Sprengbomben. Durch die Druckwellen wurden wir hin und her geworfen. Alle Menschen im Keller waren ruhig. Nur ich schrie laut und voller Angst. Ich weiß nicht wie lange das dauerte, war es eine halbe Stunde – länger oder kürzer? Da hört jedes Gefühl für die abgelaufene Zeit auf."
Am Kuchentisch in München-Giesing versucht Auguste Burger sich an ihrer Gefühle und Wahrnehmungen in dem engen Keller zu erinnern: Acht bis zehn Leute seien dort gewesen. Ob es dort Licht gab oder ob es dunkel war, kann sie nicht mehr sagen. Ganz verkrampft seien die anderen Schutzsuchenden gewesen, auch ihre Schwester Maria: "Aber ich habe meine Angst raus geschrien. Doch die Sprengbomben, die Einschläge, die waren noch viel lauter." Vor allem die Druckwellen der Explosionen sind ihr in Erinnerung geblieben: Wie der ganze Keller bebte und wackelte und die hilflosen Insassen hin und her geschleudert wurden.

Die Todesangst im Keller - "Weil sie gar nix mehr steuern können"
Die Angst, die sie dort verspürte, sei nicht zu beschreiben und völlig anders, als jede Angst, die sie irgendwann sonst im Leben gefühlt habe. Eine Todesangst, die auch davon geprägt war, der Situation völlig ausgeliefert zu sein: "Angst haben sie dort, weil sie gar nix mehr steuern können", erinnert sich Auguste Burger.
Die Beschreibung von weiteren Details, von Geräuschen, Gerüchen oder Gefühlen fällt der 91-Jährigen schwer: Sie wolle auch nach 75 Jahren nur berichten, an was sie sich wirklich erinnern könne, erklärt sie: "Und ich habe das alles nicht über den Verstand, sondern nur über das Gefühl wahrgenommen."
Das gilt auch für die Situation nach dem Bombardement: Das Haus über dem Keller war selbst getroffen. "Die haben auch Brandbomben geworfen. Die Phosphor-Flüssigkeit läuft die ganze Hauswand herunter. Wir müssen sofort den Keller verlassen und einen sicheren Platz im Freien suchen", habe der alte Herr Angermaier gewarnt.
Die Flucht nach dem Angriff: "Ich habe es nicht als dunkel in Erinnerung"
Ob das Haus brannte oder nicht, könne sie heute aber nicht mehr sagen, berichtet Auguste Burger: "Nach meiner Erinnerung haben eher die Brocken gebrannt, die am Boden lagen." Doch obwohl es schon später Abend war, habe man die Umgebung gut erkennen können: "Ich habe es nicht als dunkel in Erinnerung."

Herr Angermaier habe geraten, den Keller schnell zu verlassen und nicht zum Main, sondern nach oben, Richtung Frauenland oder Gerbrunn zu gehen, um Schutz zu suchen. In ihren Erinnerungen beschreibt Auguste Burger diese Situation wie folgt:
"Als wir über die Kellertüre nach draußen kamen, verlor meine Schwester fast allen Mut und wollte nicht weitergehen. Umso wichtiger wurde nun meine Aktivität. Und weil wir in der Nähe meiner Schule waren, kannte ich die Gegend ganz gut. Durch den Angriff war sie aber völlig verändert."
Tatsächlich war der Rat, den Keller schnell zu verlassen, für Auguste Burger wohl genauso Gold wert, wie die direkte Tür vom Keller ins Freie. Denn viele Opfer des Luftkrieges starben erst nach dem Angriff in den Kellern – entweder, weil sie diese im Feuersturm nicht mehr verlassen konnten oder weil sie durch austretendes Gas erstickten.
Viele Opfer fanden einen grausamen Tod im Bombenkeller
Der Autor Jörg Friedrich zitiert in seiner Bombenkrieg-Dokumentation "Der Brand" den damaligen Würzburger Domkaplan Fritz Bauer zum grausamen Tod im Bombenkeller:
"Welche Szenen sich dabei abgespielt haben, wird niemand je beschreiben. Keiner der Überlebenden wusste zu sagen, wie er herausgekommen sei. Später traf ich eine Frau aus der Ursulinengasse, die bei dieser unterirdischen Jagd um das Leben, zwei Kinder verloren hatte. Sie waren beim Gedränge von ihr losgerissen worden, unter die Füße der gehetzten Menge geraten und totgetrampelt."
Zur gleichen Zeit versuchte sich Auguste Burger mit ihrer Schwester in Sicherheit zu bringen. Ein junger Mann hatte sich den Beiden angeschlossen. Auch er wollte in Richtung Gerbrunn:
"Die Straße, sonst breit, lag voller Geröll, Steinbrocken und noch brennenden oder rauchenden Holzbalken. Ein Vorankommen war schier unmöglich", schreibt sie: "Da entdeckten wir mitten im dem Durcheinander ein weinendes Kind. Es mag drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Die Menschen in dieser Straße liefen wirr umher, aber keiner bewegte sich hin zu dem Kind, so nahmen wir es mit."
Ein weinendes Kind und ein grausam entstellter Toter in Wehrmachtsuniform
Doch noch nicht genug des Grauens: Etwas weiter am Weg entdeckte die Gruppe ein paar Meter abseits der Straße einen Mann in Wehrmachtsuniform:
"Wahrscheinlich war er schon tot, denn er hatte eine große Verwundung im Unterleib, so dass aus dem Bauch die Gedärme quollen. Für mehrere Augenblicke war ich körperlich und geistig völlig erstarrt und konnte auch meinen Blick nicht abwenden. Das Geschehen drang tief in mein Bewusstsein ein. Es war das Grauenhafteste, was ich in dieser Zeit gesehen habe. Das war das wahre Gesicht des Krieges für mich", schreibt Auguste Burger.
Auch an einen Blick auf die brennende Stadt kann sie sich noch erinnern: "Ein einziges Inferno! Der Himmel war rot von den vielen Bränden, dazwischen Rauchwolken, die das Ganze noch unheimlicher erscheinen ließen." Konkrete Flammen habe sie nicht gesehen, berichtet sie auf Nachfrage: "Es war mehr wie ein Feuernebel."
"Es war mehr wie ein Feuernebel."
Auguste Burger erinnert sich an einen Ausblick auf die brennende Stadt
Nachdem sie in einer Sammelstelle das Kind abgeben konnten, verbrachten die beiden Schwestern die Nacht in einem Privathaus in der Nähe. Wo genau, könne sie nicht mehr sagen, berichtet Burger: "Wir haben da aber in der Küche geschlafen. Und obwohl es dort sehr warm war, habe ich sehr gefroren", erinnert sie sich.

Am nächsten Morgen gingen die beiden Schwestern zurück in die Stadt. Auf dem Weg begegneten sie dem von der Zerstörung der Stadt ebenfalls erschütterten Julius Döpfner, später Bischof von Würzburg und Kardinal in München, den Maria von ihrer Arbeit für die Kirche kannte, schreibt Auguste Burger in ihren Erinnerungen:
"Als wir zu dem Platz kamen, wo man Würzburg von oben sehen konnte, war noch alles voller Rauch. An einzelnen Stellen sah man noch Feuer brennen, über dem Ganzen lag ein leichter Nebel, der das Grauen etwas verbarg. (…) Mühsam bahnten wir uns einen Weg, um zu dem Haus mit der Wohnung von Dr. Angermaier vorzudringen. Dort mussten wir feststellen, dass alles zerstört war, auch die persönliche Habe meiner Schwester."
Die traumatische Bombennacht: In der Familie nie ein Thema
Noch am selben Tag schlugen sich die beiden Schwestern zum Elternhaus nach Marktbreit durch: "Unsere Angehörigen waren froh, dass wir mit dem Leben davongekommen waren. Ein längeres Gespräch über das Erlebte stand jedoch nicht an", berichtet Auguste Burger.
Auch nach dem Krieg sei in der Familie nie über diese traumatische Bombennacht gesprochen worden, erzählt die 91-Jährige, die später als Ernährungsberaterin und Diät-Assistentin arbeitete und seit 1968 in München wohnt, am Kaffeetisch. Erst ihre Großnichte Jasmin habe sie 2014 gedrängt, das Erlebte aufzuschreiben. Für sie sei diese Erinnerungsarbeit auch so etwas wie eine lange aufgeschobene Therapie gewesen, erklärt Auguste Burger heute: "Manches, was ich damals erlebt habe, habe ich erst jetzt durch die schriftliche Form verarbeiten können."