Die Infektionszahlen steigen, die Situation in den Krankenhäusern ist sehr angespannt - bundesweit und in der Region. Die Ursachen sind laut Privatdozent Dr. Matthias Held jedoch nicht schwere Corona-Erkrankungen mit Lungenversagen. Der Ärztliche Direktor und Lungenspezialist am Klinikum Würzburg Mitte schildert die aktuelle Lage, blickt auf den Herbst - und übt deutliche Kritik.
Frage: Alle sprechen von Sommerwelle - wie ist Situation aktuell am Klinikum Würzburg Mitte?
Dr. Matthias Held: Wir versorgen rund 30 Corona-positive Patientinnen und Patienten. Dies ist, mit gewissen Schwankungen, der Stand in den vergangenen Wochen. Obwohl jeder versorgt wird, der Hilfe benötigt, bedeutet dies, dass die sehr personalaufwendige Versorgung dieser meist hochbetagten und schwer pflegebedürftigen Patienten die Versorgung von Patienten mit anderen Erkrankungen deutlich erschwert. Aber das ist nicht das alleinige Problem.

Sondern? Was ist das Problem?
Held: Wir haben zwar weniger Patienten mit einer schweren Covid-19-Lungenentzündung und sind froh darüber, dass wir kaum noch Patienten mit Lungenversagen versorgen und beatmen müssen. Aber Corona trifft vor allem ältere Menschen, die schwächsten Glieder in der Gesellschaft. Und auch diejenigen, die trotz Fachkräftemangel und nicht so optimalen Rahmenbedingungen versuchen, die Versorgung aufrechtzuerhalten.
Dieses Problem ist nicht neu.
Held: Nein, aber aufgrund der hohen Inzidenzwerte in diesem Sommer infizieren sich zahlreiche sehr alte Menschen mit dem Coronavirus. Mehr als zwei Drittel unserer Corona-Patienten sind Höchstbetagte. Und diese Infektion führt bei ihnen, die ohnehin eingeschränkte Reserven haben, dazu, dass sie schnell aus dem Tritt geraten. Das heißt: Sie nehmen weniger Nahrung zu sich, sie trinken weniger. Dadurch kommt es beispielsweise zu einem akuten Nierenversagen oder zu einer Störung anderer Organsysteme. Und deshalb benötigen diese Patienten eine stationäre Versorgung.
"Es werden Krankenhausbetten gebunden, die für andere Erkrankten nicht zur Verfügung stehen."
Dr. Matthias Held, Ärztlicher Direktor am Klinikum Würzburg Mitte
Corona ist also nicht allein die Ursache für die angespannte Situation in den Kliniken?
Held: Die schwierige Lage ist nicht rein Corona-spezifisch. Jeder andere Infekt würde diese alten Menschen auch gefährden. Weil die Infektionszahlen aber so hoch sind, gibt es weiterhin eine quantitative Mehrinanspruchnahme der stationären Krankenversorgung – bei sinkenden Personalressourcen. Hinzu kommt, dass ältere Patienten nach einer erfolgreichen stationären Behandlung oft noch weitere Pflege benötigen. Es ist jedoch äußerst schwierig, Plätze in Pflegeeinrichtungen zu finden. Das heißt: Patienten, die formal keine reguläre Krankenhausversorgung mehr brauchen, verbleiben in den Krankenhäusern. Die Pandemie belastet somit weiterhin die Kliniken. Und damit auch die Versorgung aller kranken Menschen, auch der Patienten mit vielfältigen anderen Erkrankungen. Denn es werden Krankenhausbetten gebunden, die für andere Erkrankte nicht zur Verfügung stehen.
Gibt es politische Unterstützung beim Personalmangel?
Held: Die Krankenhauslandschaft fühlt sich momentan von der Politik sehr im Stich gelassen. Aber es ist für uns selbstverständlich, dass wir uns der Verpflichtung zur Versorgung bewusst sind.
"Wir versuchen die Versorgung aufrecht zu erhalten."
Dr. Matthias Held über Personalmangel in Krankenhäusern
Ist die Versorgung im Krankenhaus gefährdet?
Held: Wir versuchen die Versorgung aufrecht zu erhalten. Sie kann jedoch nur gestemmt werden, weil dem Krankenhauspersonal in allen Fachabteilungen viel Flexibilität abgefordert wird. Das heißt, durch das Einspringen und Ersetzen der ausgefallenen Kolleginnen und Kollegen und ein Arbeiten an vielen Wochenenden im Monat. Das führt zu einer großen Erschöpfung und zu schweren physischen und psychischen Belastungen.

Nimmt die Politik das Virus nicht mehr ernst genug und damit verbunden die personelle Mehrbelastung?
Held: Wir haben zwei Jahre lang über die Verbesserung der Rahmenbedingungen im Pflegesektor diskutiert. Dies lässt nach beziehungsweise ist im Sand verlaufen. Die politische Ebene hat sich zurückgezogen. Es gibt, anders als zu Beginn der Pandemie, keinerlei Kompensation mehr für die deutlich überlastete Gesundheitsversorgung.

Thematisieren Sie und Ihre Kollegen das bei den Verantwortlichen in der Politik?
Held: Wir haben Anfragen gestartet, nehmen aber wahr, dass momentan die Prioritäten anders gesetzt werden. Ich muss sogar sagen, und darüber tausche ich mich bundesweit mit Kollegen darüber aus: Wir haben alle den Eindruck, dass diese Situation politisch hingenommen wird. Und es entsteht der Eindruck, dass manchem politisch Verantwortlichen der erhöhte Druck auf den Kliniken ein willkommener Nebeneffekt in der Bereinigung der Krankenhauslandschaft ist. Denn die Versorger im Gesundheitswesen werden politisch vor allem als Kostenverursacher gesehen. Dabei wird ausgeblendet, dass unsere Aufgabe die Versorgung kranker Menschen ist. Diese Rolle nehmen alle Berufsgruppen in der Gesundheitsversorgung, sowohl in der ambulanten als auch stationären Versorgung sehr ernst. Es besteht eine Ignoranz der politischen Verantwortungsträger gegenüber den realen in der Krankenversorgung bestehenden Problemen.
"Der Fachkräftemangel im deutschen Gesundheitswesen ist am höchsten und trifft die Schwächsten."
Dr. Matthias Held, Ärztlicher Direktor am Klinikum Würzburg Mitte
Personalmangel und hohe Kosten sind nicht nur im Gesundheitswesen ein Thema.
Held: Die allgemeine wirtschaftliche Lage stellt die Kliniken sicher vor die gleichen Herausforderungen wie andere Unternehmensgruppen – etwa hohe Energiepreise. Auch da gibt es keine Unterstützung. Es ist für Beschäftigte im Gesundheitswesen jedoch schwer vermittelbar, dass sich öffentliche Diskussionen vor allem um Verzögerungen an Flughafenterminals aufgrund fehlenden Personals drehen. Das empfinden sie als Schlag ins Gesicht oder zumindest als krasse Luxusdebatte. Der Fachkräftemangel im deutschen Gesundheitssystem ist am größten. Und er trifft die Schwächsten: die Kranken und die Pflegebedürftigen – und dies mit unmittelbarer Wucht.
Was erwarten Sie für den Herbst?
Held: Diesbezüglich kann ich nur spekulieren. Die Lage wird sicherlich nicht einfacher werden, vielmehr noch komplexer und komplizierter. Denn es vergeht kein Tag, wo man nicht Corona-bedingte Personalausfälle kompensieren muss. Das Szenario steht im Raum: Jemand ist krank, und keiner kommt mehr zu Hilfe.

Momentan gibt es Debatten über die vierte Impfung. Sollten sich auch unter 60-Jährige impfen lassen?
Held: Die individuelle Gefährdung des Einzelnen scheint derzeit geringer als in den vergangenen zwei Jahren. Dies liegt an den aktuell vorkommenden Varianten und dem Impfschutz. Ich würde derzeit den aktuellen Impfempfehlungen folgen. Eine Abweichung von den aktuellen Empfehlungen kann im Einzelfall begründet sein. Eine neue Impfmüdigkeit könnte die Situation im Herbst weiter deutlich erschweren.