Weißes Hemd, schwarze Jacke, Brille und ein Lächeln. Nichts lässt äußerlich vermuten, was Gerhard Schwarzmann in den vergangenen Monaten in seinem Innersten durchlebt hat. Das ändert sich, wenn er zu erzählen beginnt. Vom 25. Juni 2021, dem Tag der Messerattacke in Würzburg.
Schwarzmanns Stimme wird leiser, klingt verletzlicher. In manchen Momenten kommen dem erfahrenen Notarzt die Tränen. Noch immer - auch fast zwei Jahre nach dem Vorfall am Barbarossaplatz, bei dem ein Mann drei Frauen erstach und neun weitere Menschen teils schwer verletzte - hat er von einem auf den anderen Moment Bilder von toten Menschen vor Augen. "Auch jetzt, während wir miteinander reden, sehe ich eine Tote vor mir, jetzt die nächste", sagt er im Gespräch. Manches Mal hätten die Menschen, die er sehe, kein richtiges Gesicht, sondern große offene Augen und Münder wie in Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei".

Von seinen Flashbacks und Panikgefühlen erzählt Gerhard Schwarzmann offen und eindrücklich auch in der Fernsehdokumentation "Terra Xplore -Schluss mit belastenden Erinnerungen". In der ZDF-Mediathek ist sie abrufbar, am 4. Juni wird sie um 18.30 Uhr nochmals im Programmfernsehen ausgestrahlt. Schwarzmanns Botschaft ist ganz klar: "Ich möchte allen Kollegen und Kolleginnen sagen: Traut euch, euch Hilfe zu suchen, wenn ihr merkt, es geht nicht mehr." Es habe nichts mit Schwäche zu tun, sich einzugestehen, dass die Belastung zu hoch ist, um es allein zu schaffen, sagt der Notarzt. "Vielmehr das Gegenteil ist der Fall."
Immer noch fassungslos über die Vorgehensweise des Täters
Rückblick: Es ist der 25. Juni 2021, am späten Freitagnachmittag. Gerhard Schwarzmann, als Referent des Ärztlichen Direktors am Uniklinikum Würzburg tätig, sitzt in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Als er vor dem Kaufhaus Woolworth mehrere offenbar schwer verletzte Menschen liegen sieht, schnappt sich der Mediziner den Erste-Hilfe-Kasten der Straßenbahn und lässt sich vom Fahrer die Tür öffnen. Als einer der ersten Helfer gelangt er ins Innere des Kaufhauses.

Wenige Minuten zuvor hat ein junger Mann mit somalischen Wurzeln zugestochen. Noch heute erschüttern Schwarzmann die grausamen Bilder der am Boden liegenden Toten und Verletzten und das viele Blut. Er habe das Blut zum Glück nicht riechen können, berichtet der 61-Jährige. Sein Geruchssinn sei damals nach einer Covid-19-Infektion komplett weg gewesen. Was ihn noch heute fassungslos macht: "Dass der Täter so gezielt zugestochen hat, dass keine der Getöteten eine Chance hatte zu überleben."
Als langjähriger Rettungsmediziner habe er bei zahlreichen Einsätzen viel Schlimmes gesehen und erlebt. "Aber das am Barbarossaplatz hat alles übertroffen. Es war aktives Handeln. Das ist es, was diesen Einsatz anders macht".
Was diesen Einsatz für den Würzburger Notarzt anders machte
Anders macht den Einsatz auch, dass Schwarzmann als Privatmensch auf dem Heimweg völlig unerwartet und unvorbereitet als Zeuge in den Vorfall gerät - "allein und ohne den rettungsdienstlichen Panzer, den man hat, wenn man offiziell im Notdienst ist". Das macht angreifbarer. Verletzbarer.
Heute glaubt der 61-Jährige, dass erste Anzeichen für das Trauma, das die Messerattacke in ihm ausgelöst hat, schon während des Rettungseinsatzes auftraten.

So erzählt er von einem nicht maßstäblichen Raumempfinden - "größer und tiefer als normal". Von dumpfer Geräuschempfindung - "viel leiser als normal". Und von einem veränderten Zeitgefühl, das Minuten "viel länger" erscheinen lasse. Das Verstörendste aber sei gewesen, sagt der erfahrene Notarzt, dass er plötzlich an der Stelle der drei Toten seine drei Töchter vor sich sieht. Mitten in den Blutlachen. "Dass ich Familienangehörige an einen Einsatzort projiziere, das ist mir noch nie passiert." Das Bild wird ihn in den folgenden Monaten immer wieder verfolgen.
Schwarzmann erkennt, dass bisherige Aufarbeitung nicht ausreicht
Doch es dauert, bis Schwarzmann erkennt, dass die sonst nach Rettungseinsätzen üblichen Nachbesprechungen, um das Erlebte mit Kollegen und Psychologen aufzuarbeiten, nicht ausreichen. Das hier geht tiefer. Flashbacks und Panikattacken, die er nicht kontrollieren kann, beginnen sein Leben zu bestimmen. Irgendwann erkennt er: "Ich bin immer wieder im Einsatz drin, so kann es nicht weitergehen."
Als Schwarzmann einen Vortrag über den Einsatz am Barbarossaplatz vorbereitet, ist der Höhepunkt des Leidens erreicht. Ein halbes Jahr nach der Messerattacke sucht sich der Mediziner professionelle Unterstützung - in der nach dem Attentat eingerichteten Trauma-Ambulanz an der Uniklinik Würzburg.
Seine Therapeutin ist Dr. Marion Schowalter, die Trauma-Betroffene mit "Eye Movement Desensitization and Reprocessing" (EMDR) behandelt. "Mithilfe gleichmäßiger Augenbewegungen kann der Patient in seine Erinnerungen eintauchen und lernen, sein Trauma neu zu bewerten und dann zu verarbeiten", erklärt die Leiterin der Würzburger Trauma-Ambulanz dieses Verfahren. Oft schon nach wenige Behandlungen fühlten sich die Patienten deutlich entlastet.
Behandlung in der Trauma-Ambulanz: Auch Schwarzmann erzielt durch EMDR Erfolge
Auch Schwarzmann macht mit der Therapie schnell Fortschritte. Allerdings, so Schowalter, würden die besten Erfolge bei Menschen mit einer akuten Traumatisierung innerhalb der ersten drei Monate nach dem jeweiligen Vorfall erzielt. Auch die Arbeit mit Betroffenen der Messerattacke habe gezeigt, dass oftmals nur wenige Sitzungen ausreichen, um ein Trauma zu lösen. "Der Effekt des EMDR ist es, den Kopf freizubekommen, indem das Trauma in den Hintergrund tritt." Bei Menschen, die eine Posttraumatische Belastungsstörung länger mit sich tragen, dauere es manchmal auch länger, diese zu behandeln.
Nichtdestotrotz - die Behandlungsdauer sei um bis zu 40 Prozent kürzer als andere wirkungsvolle Psychotherapien wie die herkömmliche Verhaltenstherapie, sagt Schowalter. "Oft bin ich selbst erstaunt, wie gut diese Methode funktioniert." Nach dem Aufbau der Trauma-Ambulanz habe sie in Würzburg bereits viele Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen auf die Methode schulen können, weitere sollen folgen.

Für ihn sei die Therapie ein Segen, sagt Schwarzmann. Er könne seinen Alltag wieder gut bewältigen, ist gefestigter. Wenn heute Bilder der Messerattacke vor seinen Augen auftauchen, steckt er nicht mehr in der Situation. "Die Bilder haben ihren Schrecken verloren, tauchen auch nicht mehr so frontal auf, sondern eher im Blickwinkel und sie tun nicht mehr so weh."
ZDF-Dokumentation gibt Einblicke in die Therapiesitzung
Eindrücklich gibt die ZDF-Dokumentation einen Einblick in eine Therapiesitzung Schwarzmanns mit Dr. Schowalter und zeigt, wie das EMDR-Verfahren funktioniert. "Das Gehirn verarbeitet das Trauma über die Augenbewegung und sucht nach einer Möglichkeit, um die schrecklichen Gefühle aufzulösen", erklärt Schowalter. Die Bewegungen der Augen beziehungsweise der Pupillen von rechts nach links werden vom Therapeuten angeleitet.
Lange Zeit, so Schwarzmann, habe er nicht ertragen können, wenn jemand hinter ihm steht oder hinter ihm vorbeigeht, "da sind sofort starke Panikgefühle aufgekommen". Angenehm, so der Notarzt, sei das zwar immer noch nicht, "aber die Panik ist weg".
Noch immer gehe ihm oft die eine Frage durch den Kopf: "Was, wenn ich vier Minuten vorher am Barbarossaplatz gewesen wäre?" Er sei sich sicher, sagt Schwarzmann, dass er mit allen Mitteln versucht hätte, den Täter zu stoppen. Der Gedanke, dass es dazu nicht kam, habe ihn lange Zeit verzweifeln lassen. Die Vorstellung sei zwar auch heute noch da, "aber ohne diese große Verzweiflung dahinter".
Schwarzmanns Appell: Es ist gut, sich die Schwäche einzugestehen
Inzwischen blickt er optimistisch in die Zukunft. Und er ist sich bewusst, dass er sich gleich nach dem Vorfall hätte Hilfe suchen müssen. "Es zeugt von Stärke, sich das einzugestehen. Das will ich Betroffenen mitgeben. Habt keine Scheu, euch Unterstützung zu holen!"
ZDF-Doku Terra XploreDie Dokumentation "Terra Xplore - Schluss mit belastenden Erinnerungen" ist in der ZDF-Mediathek unter folgendem Link abrufbar: https://www.zdf.de/dokumentation/terra-xplore/schluss-mit-belastenden-erinnerungen-100.html.Ausgestrahlt wird die Sendung im ZDF am Sonntag, 4. Juni, um 18.30 Uhr. In dem neuen Wissenschaftsformat Terra Xplore des ZDF geht es um das Menschsein: Biologin Jasmina Neudecker und Psychologe Leon Windscheid gehen in ihren Reportage-Dokus der Frage nach, wie wir fühlen und handeln.Quelle: ZDF/kgh