Corona hat Kliniken verändert. Nicht nur auf Intensivstationen herrschte oft Ausnahmezustand, die Folgen der Krise trafen weite Teile der medizinischen Versorgung. Beispiel Krebs: Hier warnten Experten schon früh vor fatalen Spätfolgen verschobener Vorsorge. Tatsächlich hätten im Frühsommer 2020 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich weniger Krebsoperationen stattgefunden, sagt PD Dr. Armin Wiegering. Der stellvertretende Klinikdirektor der Chirurgie am Uniklinikum Würzburg und Leiter des viszeralonkologischen Zentrums hat gemeinsam mit der Barmer-Versicherung die Auswirkungen der Pandemie auf Krebsbehandlungen analysiert. Ein Gespräch über unentdeckte Fälle, verschlechterte Prognosen und eine drohende Übersterblichkeit an Tumorerkrankungen.
Frage: Sie haben zusammen mit der Barmer die Auswirkungen der Corona-Krise auf Krebsbehandlungen analysiert. Warum?
Dr. Armin Wiegering: Wir wissen, dass es während der Pandemie zum Beispiel weniger Notfall-Vorstellungen in der Notaufnahme gab, weniger Herzinfarkte und auch weniger Patienten, die mit Verdacht auf Blinddarm-Entzündung ins Krankenhaus kamen. Daher haben wir uns gefragt: Hat Corona auch einen Einfluss auf die Anzahl der durchgeführten Krebsoperationen? Und das ist tatsächlich so. Im Frühjahr und Frühsommer 2020 fanden im Vergleich zu den Vorjahren deutlich weniger Krebsoperationen statt.

Wie haben Sie das untersucht?
Wiegering: Unsere Basis waren die Abrechnungsdaten der neun Millionen Barmer-Versicherten in Deutschland. Anhand dieser Zahlen haben wir ermittelt, wie oft die häufigsten Krebsoperationen von April bis Oktober 2017 bis 2019 durchgeführt wurden und das dann mit 2020 verglichen. Schon im April konnte man sehen, dass deutlich weniger Tumoroperationen stattfanden. Im Mai sank die Zahl noch einmal ganz dramatisch. Erst über den Sommer stiegen die Werte wieder ein bisschen und im Herbst kam es dann bei einer Reihe von Tumorerkrankungen zu einer Art Nachholeffekt.
Betrifft das alle Krebsarten?
Wiegering: Wir haben neun Krebsarten untersucht und bei allen gab es eine Abnahme im Frühjahr letzten Jahres. Dann trat bei einem Teil der genannte Nachholeffekt auf. Aber: Vor allem bei Krebserkrankungen, bei denen die Tumore eigentlich durch Vorsorge-Untersuchungen erkannt werden können wie etwa Darm- und Brustkrebs, bleiben die Zahlen deutlich unter denen der Vorjahre zurück.

Woran liegt das?
Wiegering: Zum einen sicher daran, dass weniger Patienten zur Vorsorge gegangen sind. Vielleicht haben auch manche Betroffene Symptome einer Krebserkrankung erst einmal ignoriert und den Arztbesuch hinausgezögert – entweder aus Angst vor einer Ansteckung oder aus dem Gefühl heraus: 'Es wird schon nicht so schlimm sein, gerade haben wir größere Probleme'.
Sie schreiben in der Studie, Sie gingen von mindestens 2600 unentdeckten Krebserkrankungen allein in der ersten Corona-Welle aus.
Wiegering: Genau – und das im Prinzip aus den gleichen Gründen. Diese Zahl umfasst aber zunächst nur die ersten drei Monate.
Warum alarmiert das Experten? Weshalb machen einige Monate bei der Krebsvorsorge viel aus?
Wiegering: Weil Tumore wachsen und streuen können. Dazu gibt es zahlreiche Untersuchungen. Bei Dickdarmkrebs ist es zum Beispiel so: Wird die Erkrankung im Stadium drei nur sechs Monate später erkannt – ist die Überlebensrate fünf Jahre später um 30 Prozent schlechter. Zeit ist also das Entscheidende. Es geht nicht um zwei oder drei Wochen – wichtig ist generell, dass Patienten therapiert werden.
Warten, bis die Pandemie vorbei ist, war und ist also fatal.
Wiegering: Genau. Das amerikanische Krebsforschungszentrum hat dazu schon im Frühsommer 2020 eine Kalkulation aufgestellt. Demnach gehen die Forscher davon aus, dass es bis 2030 zu 5000 zusätzlichen Darmkrebs-Todesfällen und 6000 zusätzlichen Brustkrebs-Todesfällen in Amerika kommen würde – wenn die Corona-Einschränkungen etwa sechs Monate bestünden. Das war damals, im Mai 2020, eine realistische Annahme. Jetzt aber dauert die Krise deutlich länger – und damit werden die Zahlen viel höher steigen.
Sehen Sie als Mediziner bereits jetzt die Folgen verschleppter Vorsorge, also Krebs in so fortgeschrittenen Stadien wie lange nicht?
Wiegering: Das können wir anhand unserer aktuellen Studiendaten nicht sagen. Es ist aber davon auszugehen. Und es ist auch zu befürchten, dass wir vielleicht in fünf oder acht Jahren eine Übersterblichkeit an Tumorerkrankungen sehen werden.

Was heißt das für die Therapie?
Wiegering: Es kann sein, dass es komplizierter wird, dass wir mehr Patienten in einem metastasierten Stadium sehen – aber letztlich ändert sich an der grundlegenden Therapie nichts.
Fürchten Sie, dass nach der dritten und langen Corona- Welle noch viel mehr unentdeckte Krebserkrankungen auftauchen?
Wiegering: Wir wissen es noch nicht, aber davon muss man ausgehen.
Sie haben es bereits angesprochen: Viele Menschen fürchten angesichts der Bedrohung durch Corona den Arzt- oder Klinikbesuch. Was raten Sie?
Wiegering: Ganz konkret sollen Menschen, die die Möglichkeit zur Krebsvorsorge haben, zu den Untersuchungen hingehen – egal ob für Brust- oder Darmkrebs, Gebärmutterhals- oder Prostatakrebs. Das ist die wichtigste Maßnahme überhaupt. Und auch generell sollte jeder Patient bei unklaren Symptomen einen Arzt aufsuchen. Immer und sofort, das ist wichtig.