Für heutige Ohren klingt Franz Schuberts tränenreicher Liedzyklus "Winterreise" in seiner wohligen Melancholie nicht mehr allzu verstörend. Schuberts Freunden, die das Werk 1827 zum ersten Mal hörten, erging es anders: Sie empfanden regelrechte Beklemmung ob der radikal düsteren Stimmung, die sich nicht nur nicht auflöst, sondern im Laufe der 24 Lieder immer verzweifelter wird.

Der Komponist Hans Zender (1936-2019) hat sich zeitlebens mit der Wahrnehmung von Musik beschäftigt und anders als die Verfechter historisch informierter Interpretationen immer die These vertreten, dass es die eine authentische Deutung nicht geben kann. Dass Menschen Musik immer vor dem Hintergrund ihrer zeitgenössischen Erfahrungen erleben werden.
Zenders "komponierte Interpretation" von Schuberts "Winterreise" für Tenor und kleines Orchester ist deshalb keine Neudeutung, sondern der Versuch, vielleicht auch das Experiment, etwas von der einstigen Wirkungsmacht dieses viel gespielten Werkes für heutige Ohren wiederherzustellen. Beim 3. Sinfoniekonzert des Mainfranken Theaters am Donnerstag und Freitag scheint das Experiment jedenfalls gelungen.
Hans Zender interpretiert Klavierstimme und Texte wie unter dem Brennglas
Die Reaktionen im recht gut besuchten großen Saal der Hochschule für Musik am ersten Abend deuteten jedenfalls an, dass der Komponist die richtigen Töne - und Geräusche - gefunden hat. So wandelte sich anfängliche Verwunderung in den Teilen des Publikums, die mit der Anlage des Stücks noch nicht vertraut waren, in offensichtliches Staunen und schließlich befreite Begeisterung ganz am Ende.
Zender interpretiert Klavierstimme und Texte wie unter dem Brennglas, mal wörtlich, mal mit innigem Mitgefühl, mal mit beißendem Sarkasmus. Denn wo in der Urform des Zyklus das Klavier den traurigen Wanderer zwar gelegentlich piesackt und bedrängt, fällt hier das Orchester mit wüsten Verwerfungen erbarmungslos über ihn her.

"Fremd bin ich eingezogen", lautet der berühmte erste Vers, und dementsprechend zieht ein Teil des Orchesters erst in den Saal ein, als die Trommel schon die Schritte des Wanderers über den Schnee andeutet.

In der Folge entfesseln die Philharmoniker unter der präzisen Leitung von Gastdirigent Joseph Bastian hochkonzentriert das ganze Spektrum an Lauten, die mit klassischen Orchesterinstrumenten, Gitarre, Akkordeon, Melodica, allerlei Schlagwerk und Windmaschinen möglich sind - vom biedermeierlichen Idyll über den defekten Leierkasten bis zum kakofonischen Aufruhr der Elemente. Wobei diese "Winterreise" natürlich kein Hörspiel ist, sondern immer sinnliche, urmusikalische Darstellung innerer und äußerer Zustände.
Diese "Winterreise" wird auch zu einer Wiederentdeckung der Radikalität Schuberts
Der Tenor Daniel Behle ist gleichermaßen auf der Lied- und Opernbühne zu Hause, aber auch bei allerlei Spezialprojekten abseits der ausgetretenen Pfade. Und genau deshalb der ideale Interpret für dieses Werk. Er kann wunderbar leicht und lyrisch, auftrumpfend heldisch und scheut sich auch nicht, bei Bedarf seine unverkennbare Stimme richtig hässlich klingen zu lassen, besonders in den Passagen mit Mikrofon.
So wird diese "Winterreise" zu einem zutiefst bewegenden Eintauchen in eine bewegte Gefühlswelt und - ganz nebenbei - zu einer Wiederentdeckung der Radikalität Schuberts. Denn Hans Zender macht gleichsam den Ursprungsort dessen hörbar, was die Musik Gustav Mahlers oder Alban Bergs erst ermöglicht hat. So gesehen, wäre Bergs Opernfigur Wozzeck ein direkter Nachfahre des Winterwanderers. Wer das nachprüfen möchte, findet übrigens das entsprechende Stück ebenfalls auf dem Spielplan des Mainfranken Theaters.
Langer, herzlicher Applaus für eine beeindruckende Ensembleleistung.