3000 Gedichte, eine Vielzahl epischer Werke, Bildungsromane, Briefwechsel, naturwissenschaftliche Betrachtungen– den literarischen Nachlass des "Achttausender unter den Dichtern" lesend zu bewältigen, scheint unmöglich. Diese Erkenntnis mag den Autor Michael Ehnert dazu motiviert haben "Goethes sämtliche Werke ... leicht gekürzt" einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Damit ist ihm eine geistreiche Komödie gelungen, die bei der fulminanten Premiere im Theater Chambinzky die Zuschauenden bestens unterhielt und häufig begeisterten Zwischenapplaus und spontane Lachsalven provozierte.
Des Pudels Kern neu entdeckt?
Überraschende Neugestaltung im Großen Haus: Sitzreihen auf beiden Breitseiten des Raumes, die "Bühne" in der Saalmitte, weißes Tuch verdeckt (vermutlich) Requisiten. Als die Decke gelüftet wird, präsentiert sich ein famoses Bild: In klobige, durcheinander gewürfelt Kisten haben die findigen Bühnenbauer Ulrike Schäfer und Andreas Zehnder das "Archiv" des Universalgenies versteckt. Hier verbergen sich Raritäten, verschwunden geglaubte Schriftstücke, explosive Begegnungen mit Schiller... Vielleicht wird sogar des Pudels Kern neu entdeckt?
Diese Schatzkammer nehmen drei Weibsleute unter die Lupe, die schon vorher die "Schockstarre, wenn man Goethe hört" abgelegt und mit ihrem Goethe-Rap schwungvoll signalisiert haben, dass sich ihre Verehrung des Dichterfürsten von der landläufigen weitgehend unterscheidet. Sarah Be´ke, Anne Hansen und Christina von Gollitschek wechseln sich in der Rolle der Hauptfigur nahtlos ab: Mal hüstelnder Greis, mal genervter Staatsverwalter, mal protziger Weiberheld – dieses Spitzentrio kann aber noch mehr.
Von Götz bis Werther
Als "Bühnenwestern aus dem Schwabenland" stürmt und drängt der "Götz von Berlichingen" ins Bild zum zaudernden Weislingen und der intriganten Adelheid. Der schwulstige Liebesrausch des "jungen Werther" kommt bei der "ausgebufften Lotte" nicht an und die Clavigo-Misere wird gnadenlos zum Spiegelbild der eigenen Treulosigkeit stilisiert. Betont witzig, aber nicht wirklichkeitsfern treffen die Blasphemie-Vorwürfe den freigeistigen Diskurs in "Prometheus". In der Umsetzung von Goethes Theater-Anweisungen zum Schauspiel "Torquato Tasso" läuft das schillernde Dreigestirn zu Höchstform auf. Und mit welcher Inbrunst sie den Weibergeschichten des "grauen Stars im deutschen Auge" auf den Grund gehen, ist ein steter Quell der Heiterkeit. Zwei Stunden höchst sehenswerte Literatur-Nachhilfe!