Frontal an der weißen Wand stehen die nackten Zahlen: 11.03.2009, 9.33 Uhr, daneben ein Zitat aus dem Buch "Der kleine Prinz" über die Einzigartigkeit jedes Einzelnen. Warmes indirektes Licht erhellt die Wände. 15 Stelen in Form von kleinen Tischen breiten sich über die ganze Fläche des Raumes aus - eine für jedes Opfer des Amoklaufs.
Der Gedenkraum in der Albertville-Realschule in Winnenden erinnert an das Massaker, das ein ehemaliger Schüler hier vor zehn Jahren anrichtete, bevor er sich nach mehrstündiger Flucht vor der Polizei in Wendlingen am Neckar selbst mit einem Kopfschuss richtete.
Junge lachende Lehrerinnen, vor Lebensfreude strahlende Teenager und drei Männer blicken dem Betrachter entgegen. Man erkennt Lachfältchen, Zöpfe und Sommersprossen. Ein großes Foto für jeden Einzelnen, der vor zehn Jahren hier ermordet wurde. Erschossen vom 17-jährigen Tim K. Daneben liegen persönliche Dinge der Opfer: ein weißer, abgegriffener Stofftiger, eine getrocknete Rose, ein rosa Schulheft, eine herunter gebrannte Kerze, ein Hufeisen, eine zierliche Schneekugel.

"Wir wollen, dass die Opfer im Vordergrund stehen, nicht die Tat", sagt der Rektor der Albertville-Realschule, Sven Kubick. Damit meint er zum Beispiel den Jungen, der eigentlich am 11. März 2009 krank geschrieben war und mit Krücken in die Schule humpelte, um eine Klassenarbeit nicht zu verpassen oder das Mädchen einer Einwandererfamilie, die ihrem einzigen Kind eine bessere Zukunft ermöglichen wollte.
Er erinnert sich an den Teenager, dessen zwei jüngere Schwestern heute die Realschule besuchen und an den Verkäufer und den Kunden eines Autohauses, in dem sich der Amokläufer am Ende selbst tötete. Einer von beiden hinterließ ein einjähriges Baby. Besonders oft denkt der Schulleiter an den Vater einer Schülerin, der weinend mit der Mütze seiner Tochter im Rektorat stand. "Was sollte ich ihm sagen? Ich konnte ihm sein Kind doch nicht wiedergeben."
Zehn Lehrer, ein Viertel des Kollegiums, die damals teils direkt betroffen waren, arbeiten heute noch an der Albertville-Realschule. Rektor Kubick kam ein Jahr später nach Winnenden.

Eines der Fotos in der ersten Reihe zeigt Nina, die damals 24-jährige Referendarin für Deutsch, Religion und Kunst. Sie kam gerade vom Geburtstag ihrer 14-jährigen Schwester, als sie jäh aus dem Leben gerissen wurde. In diesem Jahr wird die kleine Schwester 24 Jahre alt. Ihre Mutter, Gisela Mayer, ist eine derjenigen, die sich dafür engagieren, dass so etwas nie wieder passiert. "Denn es war kein Naturereignis, sondern eine menschliche Tat, die hätte verhindert werden können. Deshalb können wir das nicht einfach so hinnehmen, wir müssen etwas tun!"
„Weil auch dieser Junge nicht als Mörder auf die Welt kam, weil Gewalt immer irgendwann beginnt ...“
Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden
Auch jetzt, zehn Jahre später, blitzt ungebrochene Entschlossenheit aus ihren Augen, wenn sie berichtet, dass sich die Angehörigen aller (!) Opfer zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben, dass sie einen offenen Brief an die Bundesregierung verfasst, Unterschriften gesammelt und im Bundes- und Landtag mit Experten Maßnahmen zur Amok-Prävention erarbeitet haben. Wenn sie erzählt, dass es seither Amnestieregelungen gibt, die es Waffenbesitzern erlauben, alte, teils geerbte Waffen straffrei abzugeben. Wenn sie erklärt, wie wichtig unangemeldete Kontrollen sind, um sicher zu stellen, dass Sportschützen ihre Waffen und Munition ordnungsgemäß aufbewahren. Denn: "Die Waffe war im Schlafzimmerschrank seines Vaters. Der Junge musste einfach nur hinlangen." In zehn Jahren hat sich in Deutschland vieles verbessert. Den Angehörigen reicht das aber nicht.
Aus dem Aktionsbündnis ist eine Stiftung gegen Gewalt an Schulen mit einem eigenen Büro in Winnenden geworden. Von hier aus konzipieren die 20 Ehrenamtlichen gemeinsam mit einer hauptamtlichen Kraft ihre Projekte und kämpfen um deren Finanzierung: ein Klassenzimmer-Theaterstück über Beleidigung und Ausgrenzung mit dem Titel "War doch nur Spaß!", ein Programm zur Gewaltprävention an Schulen namens "Haltung zählt"und ein Akrobatik-Projekt in Form einer Menschenpyramide, bei der Kinder im Sportunterricht spielerisch erfahren, was es heißt, sich gegenseitig zu unterstützen. Ihr Ziel: Alle Menschen sollten respektvoll miteinander umgehen.
Zig tausend Jugendliche, Lehrer und Eltern haben sie mit ihrer Botschaft bislang erreicht. 200 Schulen waren es allein in den vergangenen zwei Jahren. Die Anfragen steigen von Jahr zu Jahr - auch über das Bundesland Baden-Württemberg hinaus. Die Bayerische Unfallkasse beispielsweise verteilt die von der Stiftung erarbeitete Broschüre über Mobbing an allen bayerischen Schulen.
Jedem Attentat geht eine Zeit der Radikalisierung voraus
Gemeinsam mit Experten der Uni Gießen wurde eine Beratungshotline für bedrohliche Situationen eingerichtet. Jeder, der einen Amoklauf befürchtet, kann sich telefonisch an die Experten wenden. Gisela Mayer sagt, dadurch habe man schon so Manches verhindern können. "Denn welcher 15-Jährige geht schon zur Polizei und gesteht, mein Freund kommt mir komisch vor?"
Die 62-Jährige hat auch die Berichterstattung über das Axt-Attentat in Würzburg - der Stadt, in der sie ihre Kindheit verbrachte - intensiv über die Medien verfolgt. Sie sagt: "Egal, ob jemand politisch oder religiös motiviert ist oder ob er eine gestörte Persönlichkeit besitzt, jeder Tat geht ein Prozess der Radikalisierung voraus, in dessen Verlauf der Täter seine Perspektive immer weiter einengt, bis am Ende nur die Lösung der Gewalt übrig bleibt." In dieser Zeit gelte es, die Warnzeichen zu erkennen. Bei den meisten Tätern äußerten sich diese in Gewaltfantasien und sozialem Rückzug.
"Es ist ein Irrtum, zu glauben, es wäre so wichtig, gut in Französisch, Latein oder Mathe zu sein. Zuallererst müssen Kinder lernen, gut mit ihren Mitmenschen umzugehen."
Gisela Mayer, Opferangehörige und Sprecherin des Aktionsbündnisses
Gerade heute, in einer Zeit, in der das Aggressionspotenzial in unserer Gesellschaft steige, der Ton in der Politik rauer werde und sich dazu noch viele Menschen anderer Kulturen in unsere Gesellschaft integrieren wollen, sei es ein Irrtum zu glauben, es wäre so wichtig, gut in Französisch, Latein oder Mathe zu sein. Zuallererst müssten Kinder lernen, gut mit ihren Mitmenschen umzugehen. Die ehemalige Lehrerin fordert, dass Schulen für diese Wertevermittlung mehr Zeit und Personal bekommen, zum Beispiel in einem eigenen Unterrichtsfach. Denn ein Schulpsychologe oder Sozialarbeiter für 600 Schüler sei zu wenig. Daher erscheint ihr ihr Engagement heute wichtiger denn je. Doch die Arbeit, in die sich die Mutter der toten Tochter stürzt, ist nur die eine Seite der Medaille.
"Zehn Jahre ist es her und so gegenwärtig, als wäre es vorgestern passiert", sagt sie im Hinblick auf den Amoklauf. Denn in all den Jahren blieb eine Sache unverändert: Die Nähe, die Mutter und Tochter miteinander verband. "Da gibt es kein Vergessen. Das ist ein bisschen für die Ewigkeit."

Nur zehn Gehminuten vom Büro der Stiftung entfernt, wummert der Bass von "We will rock you" aus dem Musikraum der Albertville-Realschule. Hier gibt es eine Schülerfirma, die T-Shirts bedruckt, einen Raufclub und eine Capoeira-Gruppe, ein Afrika-Projekt und eine ökumenische Schulgemeinschaft, die sich für Senioren einsetzt, Elternabende und Streitschlichter, einen Gedenkraum und eine Kaffeebar, sichere Schließsysteme an den Türen und ein farbiges Raum-Leitsystem, mit dem sich Einsatzkräfte im Notfall schnell zurecht finden sollen, einen Besinnungsraum mit Tischkicker und Palmentapete.
"Wir sind eine ganz normale Schulgemeinschaft. Es wird viel gelacht", sagt Kubick. Auf einer Säule in der Aula ist in riesigen Buchstaben zu lesen: "Ich habe einen Traum."
Die Ereignisse von Winnenden und ihre Folgen Amoklauf von Winnenden: Am 11. März 2009 erschoss der 17-jährige Tim K. in seiner ehemaligen Realschule in Winnenden sowie auf seiner mehrstündigen Flucht am Klinikum Schloss Winnenden und in einem Autohaus in Wendlingen am Neckar insgesamt 15 Menschen: neun Schüler, darunter einen Jungen und acht Mädchen, drei Lehrerinnen und drei Männer. Elf weitere Menschen wurden teils schwer verletzt, viele Überlebende traumatisiert. Als ihn die Polizei stellte, tötete sich der Täter selbst. Die Folgen: Da der Vater seine Waffen und Munition nicht ordnungsgemäß verwahrt hatte, wurde er wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten zur Bewährung verurteilt. Er muss 500 000 Euro an die Unfallkasse für die Behandlung der Opfer und 400 000 Euro an die Stadt für die Renovierung der Schule zahlen. Die Familie lebt heute unter anderer Identität an einem anderen Ort. Stiftung gegen Gewalt an Schulen: Angehörige der Opfer des Amoklaufs engagieren sich seit zehn Jahren - anfangs in einem Aktionsbündnis - für ein gewaltfreies Klima an den Schulen und für strengere Waffengesetze. Spenden nimmt die Stiftung über das Konto der Kreissparkasse Waiblingen entgegen. IBAN: DE43 6025 0010 0015 0572 75. Beratungsnetzwerk Amokprävention: Gemeinsam mit den Angehörigen hat der Lehrstuhl für Kriminologie an der Universität Gießen eine Beratungshotline für bedrohliche Situationen eingerichtet. Unter der Telefonnummer 0641-9921571 können sich bundesweit Schüler und Lehrer melden, wenn sie einen Amoklauf befürchten, sich aber nicht so sicher sind, um gleich die Polizei einzuschalten.
Die Albertville-Realschule hat steigende Anmeldezahlen. In den vergangenen zehn Jahren ist sie um zwei Klassen, von 590 auf 650 Schüler gewachsen. Es ist ein Spagat zwischen Normalität und Traumabewältigung, wie in der Schülerfirma "Klamottenkiste": Helles Schülerlachen, frischer Kaffeeduft, eine einladende Cappuccino-Bar, knallbunte T-Shirts an zwei Kleiderstangen und Jugendliche, die geschäftig hin und her eilen. Für einen Freitagnachmittag ist hier viel los.

Mittendrin steht Katrin Haag. "Auch in diesem Raum ist jemand gestorben", sagt sie. Umstehende Mädchen reißen erstaunt die Augen auf. Dass Katrin auch dabei war, haben sie nicht gewusst. "Es hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt. Ich weiß noch, wie eine Schülerin ihren Pulli hochgehoben und einer Lehrerin den Streifschuss gezeigt hat." Die heute 20-Jährige war damals in der fünften Klasse.
"Auch in diesem Raum ist jemand gestorben. Es hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt."
Katrin Haag, Ehemalige
Trotzdem kommt die Ehemalige hierher und engagiert sich in ihrer Freizeit. Geübt bedient eine Schülerin neben ihr die schwenkbare Klamottenpresse, die mit einem schmatzenden Geräusch das selbst bedruckte T-Shirt freigibt. "Wir sind hier wie eine Familie", sagt Katrin, legt sorgsam den schwarzen Stoff zusamen und streicht Kante um Kante glatt. "Ich habe einen Traum. A und S, die Abkürzung für Albertville-Realschule" prangt in leuchtgrün auf dem Shirt. Sie zeigt das Etikett. "Bio und Fairtrade", sagt sie und leiser, "um die Welt ein bisschen besser zu machen".
Lesen Sie auch das Interview mit Kriminologie-Professorin Britta Bannenberg von der Universität Gießen. Sie sagt, dass sich ein Amoklauf oft verhindern ließe.

Was Angelika Kleinhenz in Winnenden überraschte Ich musste meine Einstellung überdenken, zehn Jahre seien eine lange Zeit. Lange genug, um den Kampf der Eltern gegen Gewalt an Schulen einschlafen und das Schreckliche der Tat verblassen zu lassen. Ich erlebte: Das Gegenteil ist der Fall. Die Mütter, Väter und Witwen der Stiftung kämpfen heute engagierter denn je um ein gewaltfreies Klima an unseren Schulen. Der Schmerz der Angehörigen sitzt so tief und die Erinnerung an die Tat ist so präsent, dass auch der Alltag in der Albertville-Realschule einem Spagat gleichkommt: zwischen Normalität, besonderer Achtsamkeit gegenüber den Schülern und der Traumabewältigung der Überlebenden. Dafür verdient die Schulleitung Respekt. Denn spätestens im Gedenkraum der Schule wird der Schrecken und das ganze Ausmaß des Leids klar: Sie sind so gegenwärtig, als wäre es gestern passiert.
Glauben Sie, es wird genügend präventiv getan, um Amokläufe künftig zu verhindern? Schreiben Sie uns in den Kommentaren.