Noch nie war eine Fußball-Weltmeisterschaft so umstritten wie die anstehende in Katar. Noch nie wurde so heftig über einen Gastgeber diskutiert. Noch nie wurde einer derart kritisiert. Ein Gespräch mit dem Fernsehkommentator und WM- sowie EM-erfahrenen Fußball-Experten Marcel Reif (72) über Boykott-Aufrufe, eine unredliche Diskussion und den sportlichen Stellenwert des Turniers.
Was halten Sie von den Forderungen an nationale Fußball-Verbände, die WM in Katar zu boykottieren, und von den Aufrufen, den Fernseher auszulassen und keine Spiele zu schauen?
Marcel Reif: Wenn Sie mir jetzt versprechen, nein versprechen reicht nicht, wenn Sie mir zusichern könnten, dass es einer Frau, einem Homosexuellen oder einem Arbeiter in Katar besser geht, wenn ich die WM boykottiere, dann mache ich das sofort. Wenn Sie mir das aber nicht zusichern können, dann weiß ich zwar noch nicht, wie viele und welche Spiele ich mir angucken werde, aber ich werde mir Spiele anschauen. Da halte ich einen Boykott für neben der Spur. Der hilft niemandem. Wissen Sie, möglicherweise fühlt sich jemand, der sich keine Spiele anschaut, ja besser damit und kann sagen: Boah, was habe ich da wieder für ein Zeichen gesetzt! Auch wenn es letztlich zu nichts führt. Das reicht mir nicht. Der Punkt ist ja nicht, ob sich hier jemand besser fühlt. Der Punkt ist, dass sich dort wirklich etwas verändert.
Ich kenne beinahe niemanden, vielleicht ein, zwei Menschen, die behaupten, sich keine Spiele ansehen zu wollen . . .
Reif: Das ist doch aber auch völlig in Ordnung. Jeder, der für sich entscheidet, ich guck' diese WM nicht, weil ich sie grundsätzlich ablehne, okay. Seine Entscheidung. Aber was ich mir verbitte, ist, bitteschön, dass ich deshalb, weil ich mir Spiele angucke, ein schlechterer Mensch sein soll. Oder dass ich im Umkehrschluss gut finde, wie die Arbeitsbedingungen in Katar sind, wie der Umgang mit Homosexuellen ist, wie die Frauenrechte gehandhabt werden. Das ist mir dann doch ein wenig arg kurz gesprungen, und davon möchte ich bitte verschont bleiben.
Ist die gesamte Diskussion um einen privaten Boykott bisweilen nicht auch ein wenig scheinheilig?
Reif: Scheinheilig ist ein großes Wort. Sie ist zuweilen unredlich, wie ich finde. Es geht vielen Menschen offensichtlich darum, hier im warmen Sessel zu sitzen und zu sagen: So, jetzt bin ich mal politisch korrekt und fühl mich wohler dabei. Ich habe im Leben gelernt, dass ein Abbruch von Gesprächen, ein Abbruch von Kontakten am Ende nichts bewirkt. Und es ist sehr wichtig, an welcher Stelle wir mit der Diskussion um diese WM beginnen. Bei der Vergabe? Da können wir uns einigen. Sofort. Dass die Einhaltung von Menschenrechten, dass menschenwürdige Arbeitsbedingungen nicht viel mehr ins Kalkül gezogen und als Voraussetzung für die Vergabe herangezogen worden sind, das ist zu geißeln. Damit kann man auch nicht kritisch genug umgehen. Aber jetzt, da wir kurz davor stehen, zu sagen: Jetzt boykottiere ich das, das hilft niemandem, vor allem nicht den Betroffenen in Katar. Und um die geht's.

Also ist das Kind schon 2010 in den Brunnen gefallen, als die Fifa die Weltmeisterschaften 2018 nach Russland und 2022 nach Katar vergeben hat.
Reif: Damals hätte man sagen können: Freunde, so geht das nicht. Aber wissen Sie, auch da bin ich Pragmatiker geworden im Laufe des Lebens. Maximalforderungen führen schnell in eine Sackgasse. Wenn wir immer und sofort nur unsere Standards und Kriterien anlegen . . . Aber natürlich: Dass die Situation mit den Menschen- und Arbeitsrechten in Katar vor der Vergabe überprüft gehört hätte, ist völlig unstrittig.
In Deutschland steht der Vorzeigeklub FC Bayern München in der Kritik, der sich von der katarischen Fluglinie sponsoren lässt. Vereinsmitglieder fordern, den auslaufenden Vertrag aus moralischen Gründen nicht zu verlängern. Auf der anderen Seite überweist Qatar Airways jährlich angeblich 20 Millionen Euro an den Klub . . .
Reif: So, das ist das wirkliche Leben. Und der deutsche Wirtschaftsminister kauft Gas in Katar, und der Bundeskanzler fliegt nach Saudi-Arabien, das ja noch eine Drehung mehr hat in die falsche Richtung. Da geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wissen Sie: Der Fußball – der Profifußball! – kann nicht die Insel der Glückseligen sein. Fußball ist so, wie die Umstände, unter denen er gespielt wird. Und ja, ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn jemand sagt: Das ist dann aber nicht mehr mein Fußball. Das ist dann seine Entscheidung. Ich kann aber eine solche Sicht auf die Dinge nicht zum Maß der Dinge machen. Der FC Bayern hat wirtschaftliche Beziehungen nach Katar und versichert mir, und das lässt sich überprüfen, dass er dort das Gespräch sucht, um Menschenrechte, Arbeitsrechte et cetera ein bisschen mit in die richtige Richtung zu drängen. Und damit ist es eine Abwägung, und die darf jeder für sich treffen. Wenn ein gewählter Vorstand die Dinge so sieht und handhabt, wie er es tut, und er überlegt ja noch, ob er den Vertrag verlängert, dann müssen die Mitglieder das irgendwann auch akzeptieren.
Das nennt sich Demokratie.
Reif: Ja, richtig, so ist Demokratie. Da ist vieles Abwägung. Ich bin ein Mensch, der gelernt hat, dass ein Kompromiss am Ende häufig mehr bewirkt als die reine Lehre.

Sie sagten, die Münchner würden sich durch Gespräche um Verbesserungen in Katar bemühen. Es gibt ja auch das Argument, man kann da schon hinfahren, soll aber dann bei jeder Gelegenheit die Missstände anprangern. Ist das nicht ein bisschen viel verlangt von einem Fußballprofi, der ja zuvorderst dort hinfährt, um am besten möglichst erfolgreich seinen Beruf auszuüben?
Reif: Ganz wichtig ist, dass nicht wieder die Leute im warmen Sessel zu Hause sitzen, mit dem Finger zeigen und sagen: Du bist Nationalspieler, du fährst nach Katar, du spielst den Doppelpass, und direkt nach dem Doppelpass oder nach dem Torschuss möchte ich aber sofort von dir klare Zeichen gegen die Verletzung von Menschenrechten, gegen unwürdige Arbeitsbedingungen, gegen Homophobie und die Unterdrückung von Frauen hören. Das ist unredlich. Ich möchte schon, dass Fußballspieler sich äußern – wenn sie wissen, wovon sie reden. Was ich erwarten kann, ist, dass jeder, der dorthin fährt, die Augen offen hält, sie jedenfalls nicht bewusst verschließt. Und man kann von der Mannschaftsführung erwarten, dass sie Missstände anspricht und darüber aufklärt. Dann kann sich auch ein Spieler äußern. Aber nicht, weil der vielleicht gutmeinende Mensch zu Hause den Spielern die Stöckchen vor die Nase hält. Letztlich fahren die Spieler nicht dorthin, um ausschließlich politische Zeichen zu setzen. Die fahren da hin, um Fußball zu spielen. Das mag einem ja nicht gefallen, aber dann, bitte: nicht gucken und sich von der Nationalmannschaft verabschieden.

Was erwarten Sie sportlich von dieser WM?
Reif: Ich glaube, sie wird sportlich besser werden als frühere Turniere, weil die Saison ja noch nicht so lange gedauert hat. Ich habe da meine These, und die ist bestätigt: Wann habe ich denn mal die Ronaldos und Messis zu ihrer Hochzeit bei einer WM in Topform gesehen? Wenn sie denn überhaupt spielen konnten. Bei welchem Turnier am Ende einer elendig langen, viel zu langen Saison mit viel zu vielen Spielen heutzutage, habe ich denn die Stars ihre Höchstleistung abliefern sehen? Insofern glaube ich, dass es sportlich eine gute WM wird. Ich denke auch, dass die Südamerikaner wieder mehr in der Spitze dabei sein werden. Das kann der Sache nur guttun.
Was erwarten Sie von der deutschen Mannschaft? Nach der Anfangseuphorie unter Hansi Flick gab es zuletzt ja auch einige Ernüchterung.
Reif: Aber das waren ja auch Spiele, die man nicht furchtbar ernst nehmen kann. Da kann mir einer noch so lange die Nations League als wichtig erklären: Spieler, die am Samstag wieder Bundesliga spielen müssen und zwei Monate vor der WM stehen und sich nicht verletzen wollen, die kriege ich nicht dazu, dass sie in der Nations League drei Salti schlagen. Ich glaube, dass man von der deutschen Mannschaft überhaupt nichts verlangen muss. Das ist ja ihr großer Vorteil bei dieser WM nach diesen beiden letzten Turnieren.
Weil es nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 und dem Ausscheiden im Achtelfinale der EM im vergangenen Jahr eigentlich nur besser werden kann?
Reif: So ist es. Ich merke an mir, dass mich unter Flick das Auftreten und die ganze Art der Nationalmannschaft wieder mehr interessieren und dass ich mich auch wieder ärgern kann, zum Beispiel über so ein vergeigtes, am Ende nicht gewonnenes Spiel gegen England zuletzt, nachdem die Deutschen die hergespielt haben, wie sie wollten. Ich hatte eine Zeit, da war ich viel weiter weg, aber das interessiert mich wieder. Noch mal: Den großen, einzigen WM-Favoriten sehe ich nicht. Es ist also manches möglich, aber es wird von der deutschen Mannschaft weniger verlangt, viel weniger als vor der letzten beiden Turnieren.

Und wer wird der neue Superstar der WM?
Reif: Also wenn sich die Franzosen irgendwann mal als Mannschaft gerieren und der Mbappé richtig mitspielt . . . Bei den Spaniern gibt's ein paar Junge, aber möglicherweise sind die noch zu jung, so ein Gavi zum Beispiel. Lass bei den Deutschen doch mal Musiala seine Form halten, Bellingham bei den Engländern . . . Messi weiß, dass es seine letzte Chance ist mit Argentinien, und Neymar merkt vielleicht auch, jetzt oder nie . . . Also da bin ich Optimist. Wir werden was zu sehen kriegen, davon bin ich überzeugt.
Klingt, als hätten Sie eine gewisse Vorfreude auf die WM.
Reif: Ich fange an, mich mit der WM zu beschäftigen, auch sportlich. Und noch mal: Das macht mich nicht zu einem schlechteren Menschen und nicht zu einem Befürworter eines Unterdrückersystems.