Michael Schiele musste einen Moment nachdenken. „Stolz“, sagte er. „Das Wort mag ich nicht.“ Eigentlich mag er die ganze Frage nicht. Ob er Stolz empfinde, wenn er die Würzburger Kickers dieser Tage spielen sieht? Nach zweidreiviertel Jahren als Trainer bei diesem Verein. Jetzt, wo seine Arbeit so richtig aufgeht. Das war wenige Tage vor dem Aufstieg. Als der Sprung in die Zweite Liga dann geschafft war, gönnte sich Schiele doch einen kurzen Moment der Selbstzufriedenheit. „Natürlich bin ich stolz“, sagte er im TV-Interview am Samstag. Der 42-Jährige hat durchaus das Recht dazu, darauf zu verweisen, was er aus dieser Mannschaft, aus diesem Verein herausgeholt hat.
Nicht nur die Namen, auch die Möglichkeiten sind andernorts in der Dritten Liga größer, mächtiger, bekannter. Das Budget, das ihm zur Verfügung stand, wurde in den vergangenen beiden Jahren gekürzt. Jetzt steigen aber nicht der 1. FC Kaiserslautern, nicht Hansa Rostock, nicht die Löwen vom TSV 1860 München und erst recht nicht der KFC Uerdingen mit seinem Ex-Nationalspieler Kevin Großkreutz in die zweite Bundesliga auf. Nein, Michael Schiele und seine Kickers haben es geschafft. Weniger Geld, mehr Erfolg. Ein Trainer, der das umsetzt, der muss etwas verstehen von seinem Geschäft.

Ob auch ein anderer Trainer unter diesen Umständen erfolgreich gearbeitet hätte? Vielleicht. Aber Schiele tat es auf seine Art und Weise. "Ich will mich nicht verstellen", ist ein Satz, den man immer wieder von ihm hört, wenn es um seine Eigenarten geht. Das unüberhörbare schwäbische Idiom, die bisweilen etwas übertriebene Schiedsrichter-Kritik, die manchmal beinahe hingebungsvolle Liebe zu seinen Spielern. "So bin ich einfach", sagte Schiele vor fast genau zwei Jahren in einem Interview mit dieser Redaktion, kurz bevor er seinen nun auslaufenden Trainer-Vertrag unterschrieb. Er hat sich nicht geändert.
Schiele ist sich in seiner Würzburger Zeit treu geblieben, aber er hat sich durchaus weiterentwickelt, hat sich selbst immer wieder hinterfragt. An Details gearbeitet. Es gibt reichlich Akteure in der Fußballbranche, die behaupten, sie würden das, was in Zeitungen über sie geschrieben wird, niemals lesen. Schiele ist da anders. Er liest so gut wie alles. Manchmal fühlt er sich ungerecht behandelt und lässt das den Schreiber spüren. Dann kann er schon einmal patzig werden. Er sagt aber auch: "Vielleicht lernt man aus den Artikeln das eine oder andere." Die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das ist eine Fähigkeit, die Schiele hat, die ihm aber nicht jeder zutraut.

Überhaupt wird der 42-Jährige wohl oft unterschätzt. Anders als sein Vor-Vorgänger Bernd Hollerbach hat er keine Karriere als Spieler in der Bundesliga vorzuweisen. Seine höchstklassigen Partien waren die beiden Zweitliga-Spiele im Trikot des FC 05 Schweinfurt in der Saison 2001/02. Als Co-Trainer eines gewissen Ralph Hasenhüttl, heute immerhin Premier-League-Coach in Southampton, war er zwar auch schon tätig. In seiner Vita stehen aber bislang keine großen Klubs: Aalen, Fürth, Würzburg. Der Vater zweier Söhne ist ein bekennender Landmensch. Einer, der daheim auf der Schwäbischen Alb gerne auf dem Dorf lebt. Die Provinz wird in den Metropolen gerne belächelt. Schiele ist das egal. Oder "kackegal", wie er selbst in offiziellen Pressekonferenzen auch einmal sagt.
Die Familie ist ihm wichtig. Wenn es geht, fährt er auch einmal nach dem Training nach Hause nach Dorfmerkingen im Landkreis Aalen. An Heim-Spieltagen sind Frau und Kinder regelmäßig in der Arena dabei. Wenn das Team nach den Partien noch gemeinsam isst, toben die Jungen in der Stadion-Turnhalle. Wenn Schiele über die Familie spricht, funkeln seine Augen.

Der Trainer der Rothosen ist ein Fußballer mit Leib und Seele und als solcher ein Team-Player, einer, der darauf achtet, dass sich keiner in einer Mannschaft zurückgesetzt fühlt. Zurzeit lobt er immer das Team, seinen Trainerstab, die Physiotherapeuten, die Vereinsführung, ja den ganzen Klub. Selbst wenn es darum geht, welcher Spieler wie oft zum Medien-Termin muss, wessen Gesicht im Klub-TV zu sehen ist, achtet er darauf, dass jeder einmal an der Reihe ist. Es soll gerecht zugehen.
Aber man sollte sich nicht täuschen. Der Kickers-Coach weiß genau, was er will. Mit 40, so hat er einmal verraten, wollte er Trainer bei einem Profiklub werden. Er schaffte es einige Monate früher – mit 39. Sein erstes Spiel als allein entscheidender Kickers-Coach fand am 3. Oktober 2018 weitab vom großen Fußballbetrieb in Rosenheim statt. Es war das Viertelfinale im bayerischen Toto-Pokal-Wettbewerb. Die Würzburger schieden aus. Es folgten weitere Niederlagen. Nach dem 0:5 gegen Wehen-Wiesbaden beförderten die Kickers Michael Schiele vom Interimstrainer zum Dauerchef. Verstehen konnte das damals niemand. Aber es war ein Glücksgriff. Denn Schiele hatte schon einen fertigen Plan. Er krempelte die Mannschaft um, änderte die Taktik, die Herangehensweise, das Training. Und prompt kam der Erfolg.

Zweimal wurde Schiele mit den Würzburgern Drittliga-Fünfter. Zweimal musste er im Sommer seine besten Spieler abgeben. Er holte neue, unbekannte Akteure, von denen er überzeugt war. Es passte nicht immer, einige Neuzugänge sind schon wieder weg. Unterm Strich aber ist Schiele Erstaunliches gelungen. Er hat die Mannschaft einmal auf links gedreht. Aus seinen Anfangstagen sind nur noch Kapitän Sebastian Schuppan, Abwehrmann Hendrik Hansen und Angreifer Dominic Baumann übrig. Den Rest der Akteure hat er mit ausgesucht. Es ist jetzt seine Mannschaft, die seinen Fußball spielt. Der Lohn für akribische Arbeit mit jedem einzelnen. Es fällt einem kein Spieler ein, der sich nicht im Laufe dieser Saison verbessert hätte.
Die Kickers und Schiele, das scheint zu passen. "Ja", sagte er kurz und bündig im Januar im Trainingslager an der spanischen Costa de la Luz auf die Frage, ob es ein Traumjob sei, die Rothosen zu trainieren. Da war gerade Felix Magath zu einem ersten Überraschungsbesuch beim Schiele-Team gewesen. Seit der Trainer-Altmeister beim Klub-Investor Flyeralarm Chef der neuen Fußballsparte ist, steht, so ist der Eindruck, der Kickers-Coach unter Beobachtung. Eigentlich galt es zum Jahreswechsel als ausgemacht, dass der Vertrag mit dem gebürtigen Heidenheimer verlängert wird. Plötzlich war all das nichts mehr wert. Magath reklamierte für sich ein Mitspracherecht in der Trainerfrage und stellte schnell klar, dass er nicht daran denkt, diese schnell zu beantworten.

Seitdem steht Schiele selbst noch öfter im Mittelpunkt. Die Anerkennung, die ihm nun zuteil wird von den Anhängern, die eine Vertragsverlängerung mit Plakaten im leeren Stadion fordern, tut ihm gut. Das spürt man, auch wenn Schiele so etwas nie zugeben würde. Schiele ist sensibel, wenn es um Lob und Kritik geht. Als es im Herbst überhaupt nicht rund lief bei seinem Team, Schimpftiraden von den Rängen auch auf ihn hereinprasselten, diskutierte er am Zaun mit den Fans, wollte mit Argumenten seine Kritiker überzeugen.
Die Stadion-Atmosphäre saugt er auf. Wer einmal erlebt hat, wie er mit leuchtenden Augen vom riechenden Gras bei einem Flutlichtspiel gesprochen hat, der weiß das. Die Stimmung auf den Rängen ist ihm nicht einerlei. In Zeiten, als die Tribünen noch voll besetzt waren, hat er das Würzburger Publikum schon einmal mit rudernden Armen zu mehr Lautstärke animiert. Wenn die Zuschauer mit einem seiner Schützlinge aus seiner Sicht zu kritisch sind, schüttelt er schon mal für alle sichtbar den Kopf.

Hier der emotionale Trainer, dort der undurchdringliche Investoren-Vertreter Magath. Die Rollen im Schauspiel der vergangenen Wochen waren schnell vergeben. Keiner von beiden tat etwas, um das Ganze zu beenden. Schiele betonte noch am vergangenen Samstag nach dem 3:1-Sieg gegen Hansa Rostock: "Ich bin die letzten Monate gut damit gefahren, mich aufs Sportliche zu konzentrieren. Das andere müssen andere Leute machen. Die letzten Spiele ziehen wir noch durch, dann müssen wir einmal schauen."
Nun ist die Saison rum und es gibt kaum einen Grund, der noch gegen eine Vertragsverlängerung spricht. Schiele kann stolz sein auf sein Werk bei den Kickers.