Dieser Blick. Es gibt ein Foto, das kurz nach dem Anschlag entstanden ist. Annika Liebs hängt an der roten Trennleine, das Wasser glänzt auf ihren Lippen. Der bekannte Berliner Fotograf Gero Breloer hat es für die Deutsche-Presseagentur geschossen, und im Gesicht der Schwimmerin spiegelt sich eine Mischung aus Erleichterung, Fassungslosigkeit und Freude. Das Foto friert jenen Moment ein, in dem sie ihre Zeit realisiert: 1:55,68 Minuten! Sie hat den Weltrekord der legendären Franziska van Almsick über 200 Meter Freistil um fast eine Sekunde verbessert, und es gehört zum Kuriosum dieser Weltmeisterschaft 2007 in Melbourne, dass Annika Liebs dennoch nicht gewann.
Ein Wimpernschlag hinter der Siegerin
Auf den Tag zehn Jahre ist her, seit die Schwimmerin in Australien ein kleines
schrieb, und dass damals die Französin Laure Manaudou in einem atemberaubenden Finale noch einen Wimpernschlag schneller war, kümmert sie heute genauso wenig wie damals.„Als ich auf die Anzeigentafel geblickt habe, konnte ich die Zeit gar nicht glauben“, sagt Annika Liebs, „ich habe mich nie darüber geärgert, dass eine noch schneller war. Ich habe mich wahnsinnig über die Silbermedaille gefreut.“ Einen Tag später folgt die Revanche gegen die Französin: In einem beherzten Rennen schlug Liebs als Schlussschwimmerin der 4-x-200-m-Staffel Manaudou und sicherte dem deutschen Quartett die Silbermedaille.
Wettkampf in der Tennis-Arena
Für Annika Liebs war das Einzelfinale das beste Rennen ihres Lebens, und wenn sie heute darüber spricht, sagt sie: „Es war der Höhepunkt meiner Schwimmkarriere.“ Und ein bisschen auch schon der Anfang vom Ende. 2008 gelang ihr zwar in einem mühevollen Kraftakt die Qualifikation für Olympia in Peking, dort aber scheiterte sie im Vorlauf.
2006 war der Stern der gebürtigen Karlsruherin aufgegangen: Bei der Europameisterschaft in Budapest gewann Annika Liebs unter anderem mit der späteren Olympiasiegerin Britta Steffen mit den deutschen Freistilstaffeln zweimal Gold in Weltrekordzeit. Wenige Tage nach der EM heiratete sie in Würzburg ihren Trainer Stefan Lurz. In der Folgezeit schwamm die Athletin konstant Weltklassezeiten und kratzte bereits bei der WM-Qualifikation für Melbourne an Franzis Weltrekordzeit. Wenn sie an die WM in Australien zurückdenkt, „überwiegen die schönen Gefühle. Es war toll, in der Rod-Laver-Arena zu schwimmen, dort wo sonst Roger Federer oder Rafael Nadal spielen“, sagt Liebs, die ein Tennis-Fan ist.
Eine Ästhetin im Wasser
„Aus Würzburger Sicht war es eine der erfolgreichsten internationalen Schwimmmeisterschaften überhaupt“, sagt Stefan Lurz (39), noch heute SV-05-Cheftrainer, mittlerweile aber auch Geschäftsführer des Vereins und Freiwasser-Bundestrainer. Sein Bruder Thomas Lurz gewann damals Gold und Silber in der St.Kilda-Bucht.
Annika Liebs war eine Ästhetin, ihre ausgereifte Technik ließ sie elegant durchs Wasser gleiten, und noch heute nutzt Stefan Lurz im Schwimmtraining zu Anschauungszwecken Videosequenzen von ihr. Vergangenheit als Motivationshilfe: „Unser Nachwuchs staunt immer, wenn ich das 200-Meter-Finale von Melbourne zeige“, sagt Lurz.
Für das Paar aus Trainer und Athletin ging in der Zeit nach Olympia 2008 nicht nur die sportliche Beziehung zu Ende, auch die Ehe scheitert. 2009 beendete Annika Liebs ihre Karriere, in der sie insgesamt 14 deutsche Meistertitel und neun Medaillen bei Welt- oder Europameisterschaften gewann. Ins Wasser geht Annika Liebs nur noch im Badeurlaub, mit dem nationalen Schwimmsport gibt es kaum noch Berührungspunkte – ab und an telefoniert sie mit ihrer Freundin Janine Pietsch, ehemalige Weltrekordhalterin über 50 Meter Rücken.
Heute Lehrerin in Höchberg
Die 37-jährige Liebs arbeitet heute an der Grund- und Mittelschule in Höchberg (Lkr. Würzburg) als Lehrerin, ab dem Sommersemester hat sie einen Lehrauftrag an der Uni Würzburg und unterrichtet angehende Sportlehrerinnen und -lehrer im Schwimmen.
Sie sagt, sie habe „lauter schöne Erinnerungen“, wenn sie an diese außergewöhnliche Weltmeisterschaft in Australien zurückdenkt. Ihr deutscher Rekord vom 28. März 2007 hat noch heute Bestand, aber sie hat nun ein neues, erfülltes Leben nach dem Sport. Die Silbermedaillen aus Melbourne, sie schlummern in einer Kiste im Keller.