Schwierige Klassen, in denen sich Hochbegabte mischen mit Lernbehinderten und mit Kindern, die kaum Deutsch verstehen, sind in Bayerns Schulen keine Ausnahme. Sie sind Alltag. Lehrer sind stärker gefordert, mehr gestresst, sind sogar immer öfter Gewalt ausgesetzt. In dieser Situation verlangt die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, radikal neue Strukturen für Bayerns Schulen. Die Forderung nach zwei Lehrern pro Klasse und nach gleicher Bezahlung von Lehrern aller Schularten will Fleischmann am Dienstag in einer Presseerklärung zum Schuljahresauftakt deutlich machen. Mit dieser Redaktion hat Fleischmann schon vorab gesprochen.
Frage: Reden wir über Geld: Sie fordern für Bayerns Grundschullehrer eine bessere Bezahlung. Womit rechtfertigen Sie diese Forderung?
Simone Fleischmann: Diese Frage drehe ich um. Ich sage: Wer kann mir erklären, warum Lehrer von kleinen Kindern kleines Geld verdienen sollen und Lehrer von großen Kindern großes Geld? Warum ist das immer noch so? Gut, früher hat man die unterschiedliche Besoldung von Grundschullehrern und Gymnasiallehrern damit gerechtfertigt, dass Gymnasiallehrer länger und intensiver studieren als ihre Kollegen. Nach der Umstellung auch der Lehramts-Studiengänge aufgrund des Bologna-Prozesses haben sich aber Studienstrukturen und Abschlüsse angeglichen; unterschiedliche Gehälter sind durch nichts mehr zu rechtfertigen.
Frage: Sie fordern also gleiche Bezahlung für Lehrer aller Schularten in Bayern?
Fleischmann: Genau! Derzeit fangen Grundschullehrer noch mit der Besoldungsstufe A12 an, während Gymnasiallehrer mit A13 beginnen. Wir als Bayerns größter Lehrerverband fordern für alle bayerischen Lehrer A13 als Eingangsbesoldung. Das brächte den Grundschullehrern monatlich 500 Euro mehr.
Frage: Bayern steht mit der unterschiedlichen Behandlung von Grundschullehrern und Gymnasiallehrern ja nicht allein.
Fleischmann: Nein, es gibt auch andere Bundesländer, in denen Grundschullehrer schlechter behandelt werden. Aber die Forderung nach Gleichbehandlung wird jetzt auch in anderen Ländern wie Nordrhein-Westfahlen und Berlin erhoben – und jetzt, wo überall in Deutschland Lehrer in der Grundschule fehlen, ist dafür auch die richtige Zeit. Sachsen hat gerade die Gleichstellung der Lehrer eingeführt – am Beispiel dieses Landes kann man sehen, dass bei einer Umstellung ein solider und mehrstufiger Finanzierungsplan sinnvoll ist.
Frage: Den Lehrermangel in Deutschland haben Sie gerade angesprochen. Wie viele Lehrer fehlen denn in unserem reichen Bayern?
Fleischmann: Das ist genau die Frage, die man mir immer stellt und die ich ganz schlecht beantworten kann. Natürlich wird in Bayern am nächsten Dienstag, wenn die Schule startet, jede Klasse einen Lehrer haben. Wäre ja für den Staat auch fatal, wenn er seiner Aufgabe, Bildung nachzuhalten, nicht nachkommen könnte. Wenn für jede Klasse ein Lehrer bereitsteht, sieht das vordergründig so aus, als gäbe es keinen Lehrermangel.
Frage: Aber es gibt es ihn? Den versteckten Lehrermangel?
Fleischmann: Ja, denn man darf nicht die Grippewelle ignorieren wollen, die alljährlich für Unterrichtsausfall sorgt, weil auch die Mobile Reserve für Vertretungen nicht reicht. Und man darf nicht übersehen, dass Bayern im Moment aufgrund gestiegener Schülerzahlen alle, aber auch alle Lehrbefähigten zusammengekratzt hat – für ein besseres Erscheinungsbild. Da zählen reaktivierte Pensionisten und Quereinsteiger ohne Zweites Staatsexamen auch dazu. Das ist kein tragfähiges Modell für die Zukunft. Tatsächlich glauben wir, dass es bis 2028 11 000 Lehrerstellen mehr in Bayern geben muss und auf zehn Jahre gerechnet dafür dann auch 1,5 Milliarden Euro mehr ausgegeben werden müssen.
Frage: Wie würden Sie denn dem jetzigen Ministerpräsidenten und früheren Kämmerer Markus Söder klarmachen wollen, dass er für die Schulen einen solchen Batzen Geld zusätzlich lockermachen soll?
Fleischmann: Ich habe mit ihm schon darüber geredet und er hat es verstanden – zumindest jetzt vor der Wahl. Wir müssen akzeptieren, dass wir heutzutage in den Schulen nicht mehr die homogene Schülerschaft haben wie früher. Wir können nicht mehr nach dem Modell aus dem 19. Jahrhundert unterrichten, das vorsieht, dass alle Schüler zur gleichen Zeit das Gleiche lernen und mit gleichen Maßstäben gemessen werden. Wir haben als neue Herausforderungen die Integration, die Inklusion, den Ganztag – möglicherweise also ein Schulleben von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends. Außerdem müssen wir uns der Digitalisierung stellen und müssen, ganz wichtig, bei einer extrem heterogenen Schülerschaft auf individuelle Förderung setzen. Klassen, in denen Migranten sich mischen mit psychisch auffälligen Einzelkindern, mit Hochbegabten und Schwerbehinderten, sind keine Ausnahme. Sie sind Alltag.
Frage: Kann ein Lehrer oder eine Lehrerin allein denn all den unterschiedlichen Bedürfnissen dieser sehr verschiedenen Kinder gerecht werden?
Fleischmann: Nein. Darauf muss man reagieren mit multiprofessionellen Teams aus möglichst zwei Lehrern pro Klasse, die von Psychologen und Erziehern und Logopäden und Sozialarbeitern unterstützt werden. Das öffnet Schule. Und das kostet! Aber das ist der Weg, den unsere Schule gehen muss. Das sehen im Übrigen durchaus auch manche CSU-Politiker so – nicht nur Politiker der Opposition.
Frage: Derzeit sind komfortable Lehrer-Teams pro Klasse aber noch die Ausnahme. Und dies führt dazu, dass immer mehr Lehrer in ihrer Einzelkämpfer-Position an den vielschichtigen und geänderten Lehrerrealitäten verzweifeln.
Fleischmann: Ja, immer mehr Lehrer wollen auch in Bayern Stunden reduzieren und bis zu 18 Prozent der älteren Lehrer gehen vorzeitig in Pension – oft deshalb, weil sie das Gefühl haben, sie packen die selbst gestellten Anforderungen nicht mehr. Nehmen wir eine Lehrerin, die tatsächlich versucht, einer heterogenen Klasse gerecht zu werden. Sie differenziert, sie individualisiert, sie bringt verschiedene Materialien mit, arbeitet mit digitalen Medien und dem Buch, macht gute Elternarbeit. Sie versucht, die Breite an Herausforderungen anzunehmen und wird dann eben spüren, dass sie an den Rand der Belastbarkeit gerät, weil sie immer nur diagnostizieren kann und nicht lösen. Sie spürt also, dass ihr manche Kinder entgleiten – und wer das über Jahre heraus spürt, zweifelt an sich selbst. Selbstzweifel machen schwach. Und es gibt ja kaum einen anderen Beruf, in dem Schwäche so schnell gespürt wird.
Frage: Und wie könnte man eine solche Situation lösen?
Fleischmann: Was ganz anderes wäre es, wenn diese Lehrkraft Hilfen bekäme, wenn sie etwa für problematische Kinder oder in Krisen Psychologen oder andere Fachleute einschalten könnte. Support ist also das, was wir wollen. Außerdem brauchen wir in den Schulen Supervisions-Strukturen. Und, ganz wichtig, wir brauchen eben ein Zwei-Lehrer-Team in den Klassen. Derzeit ist es so, dass einer Lehrkraft in der gerade geschilderten Situation gar nichts anderes übrig bleibt, als aus der Struktur herauszugehen. Sprich, für einige Monate eine Verschnaufpause zu machen.
Frage: Gewalt in der Schule ist ein weiteres Problem, das Lehrer an die Grenzen bringt. Und die Gewalt auch an Bayerns Schulen nimmt zu.
Fleischmann: Laut der von uns 2018 in Auftrag gegebenen Forsa-Studie hat jeder fünfte Lehrer an bayerischen Schulen schon körperliche oder psychische Gewalt erfahren. Und das ist fatal. Denn wer als Lehrer einmal einen Angriff erlebt hat, hat Angst. Und wer dann weiter erlebt hat, dass Vorgesetzte einen angesichts einer solchen Erfahrung im Stich lassen – und das war das Hauptergebnis der Studie –, der frisst Zweifel in sich hinein. Und kann dann keine starke Lehrerin, kein starker Lehrer mehr sein. Deswegen ist jeder Angriff zuviel. Kultusminister Bernd Sibler hat ja gerade gesagt, dass er angesichts zunehmender Gewalt gegen Lehrer entsprechende Präventionsprogramme und Unterstützungssysteme durch Schulpsychologen ausbauen will. Das ist sicher der richtige Weg. Bei uns in Bayern sieht die Regierung durchaus Themen und Probleme. Jetzt im Wahlkampf werden diese Themen auch sichtbar gemacht. Wir als Lehrerverband müssen dann drauf schauen, dass sie nach der Wahl auch noch sichtbar bleiben.