Erste Reihe Schottenhamel-Zelt, direkt vor der Anzapfbox. Wer hier sitzt, ist entweder Fotograf, Personenschützer, Journalist oder Prominenter. In diesem Fall trifft letzteres zu. Florian Silbereisen, Mireille Mathieu, DJ Ötzi und Ralph Siegel: Schlager- und Volksmusikstars der letzten Jahrzehnte versammelt an einem Biertisch.
Sie schunkeln, essen Brotzeit, schießen Selfies. Nur eines fehlt: die Maß Bier. Alle schauen gespannt auf die Anzapfbox. Es ist sieben Minuten vor 12 und der Münchner Oberbürgermeister Reiter fehlt noch. „Hoffentlich kommt er bald, sonst gibt?s koa Bier“, ruft ein Gast. Ein Hauch von Panik.
Dann spielt Blasmusik, Polizisten laufen ins Festzelt, dahinter das Münchner Kindl. Dieter Reiter und Ministerpräsident Horst Seehofer betreten das Zelt. „Bravo“, ruft Florian Silbereisen. Gemeinsam mit DJ Ötzi steht er auf und klatscht. Die Menge im voll besetzten Festzelt folgt ihnen wie bei einem ihrer Konzerte. Wiesnstimmung.
„Alles hängt am ersten Schlag. Wenn man ihn richtig trifft, genügt ein zweiter und es läuft.“
Dieter Reiter, Münchner Oberbürgermeister
Münchens Oberbürgermeister legt eine grüne Brauereischürze um, beantwortet noch ein paar Fragen fürs Fernsehen und los geht?s. Zwei kurze, kräftige Schläge und: „O?zapft is! Auf eine friedliche Wiesn.“ Der Wiesn-Wahnsinn beginnt zum 182. Mal. Böllerschüsse donnern von draußen nach drinnen. Das Zeichen für die anderen Zelte, dass jetzt Bier ausgeschenkt werden darf. Bedienungen flitzen durch die Gänge und bringen die ersten Maßkrüge an die durstigen Gäste.
Die Meute in Tracht hat nur noch Augen für den Gerstensaft. Wie viele Schläge der Münchner Oberbürgermeister zum Anzapfen gebraucht hat, ist ihr egal. Hauptsache Bier! Dabei hat sich Reiter im Vergleich zu seiner ersten Wiesn gleich doppelt gesteigert. Vor einem Jahr hatte er noch vier Schläge gesetzt. Diesmal nur zwei. Damit ist er genauso gut wie sein Amtsvorgänger Christian Ude. Warum es diesmal besser geklappt hat? „Ich war viel entspannter. Alles hängt am ersten Schlag. Wenn man ihn richtig trifft, genügt ein zweiter und es läuft.“
Und wie es läuft. Binnen kürzester Zeit schenkt er 17 Maß Bier aus. Münchens Oberbürgermeister wird zum Schankmeister. Wie anstrengend dieser Job ist, sieht man an den Schweißperlen, die auf Reiters Stirn stehen. Den ersten Krug drückt er dem bayerischen Ministerpräsidenten in die Hand. „Ein hervorragendes Bier“, lautet dessen Urteil. Damit hat Seehofer eine Gemeinsamkeit mit dem neuen Münchner Kindl, Laila Noeth. Beide mögen das Wiesnbier. Noeth findet es sogar „spitze“. Glauben mag man das der 20-Jährigen nicht. Denn ihr Maßkrug ist noch nahezu voll.
Der Oktoberfest-Wahnsinn ist schon am ersten Tag allgegenwärtig. Irgendwie spielen alle verrückt. Vor dem Anstich wurden die ersten Bierzelte wegen Überfüllung geschlossen. Während des Sonnenaufgangs hatten sich die ersten Wiesn-Wahnsinnigen vor den Festzelten versammelt, um einen Tisch zu ergattern. Gesehen wurden auch Modedesigner Daniel Fendler, Schauspieler Hardy Krüger jr., Schauspielerin Christine Neubauer, Barbara Becker und Ex-Skispringer Sven Hannawald. Model Nicole Neukirch und das Nacktmodel Micaela Schäfer posierten bei herbstlichem Wetter freizügig am Fuße der Bavaria: Rosa Lederhose, am Po ausgeschnittene Herzen und statt Dirndlbluse nur die Hosen-Träger.
Schaulaufen, Enthemmung, rauschhaft-anarchisches Chaos: In der entfesselten Masse – gut eine Million Besucher waren es am ersten Wochenende – macht mancher, wovor ihm im normalen Leben grausen dürfte. Eine Besucherin schlürft Bier aus einem Schuh – es ist nicht mal ein appetitlicher Pump, sondern ein ausgelatschter Wanderstiefel.
Trachten- und Schützenzug zum Oktoberfest
Mit rund 9000 Teilnehmern und sieben Kilometern Länge ist der traditionelle Trachten- und Schützenzug am ersten Wiesn-Sonntag einer der größten der Welt. Alljährlich reisen auch viele Trachtler aus dem Ausland an. Sie laufen am Vormittag quer durch München zum Oktoberfest. Fahnenschwinger, Spielmannszüge und Schützen sind traditionell dabei. Seit 1950 ist der wiederbelebte Trachtenumzug fester Bestandteil des Oktoberfestes. Der Brauch geht bis auf das Jahr 1835 zurück. Schon damals zogen Trachtler und Schützen zur Silberhochzeit von König Ludwig I. und Therese von Bayern durch die Stadt. Die Hochzeit des Paares hatte 25 Jahre zuvor, im Jahre 1810, das Oktoberfest begründet. Schon 1810 huldigten Vertreter aller bayerischen Volksgruppen der königlichen Familie: Eine Gruppe von 16 Kinderpaaren in den verschiedenen Landestrachten zog mit Blumen und Früchten zum Königspavillon.
Nicht ohne Hintersinn, sollten sich doch vier Jahre nach der Proklamation des Königreichs alle Volksstämme im neuen, größeren Bayern, dem nun auch große Teile Frankens und Schwabens angehörten, einbezogen fühlen. Es war ein Versuch der Integration, bei der Eigenarten geachtet werden sollten. Text: dpa