Die Schulpolitik erhält im Koalitionsvertrag rund fünf von 85 Seiten Aufmerksamkeit. Es lohnt sich, die angedachten Maßnahmen zu betrachten: Sind sie geeignet, den in der bayerischen Verfassung verankerten Bildungs- und Erziehungsauftrag umzusetzen, also nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern auch Herz und Charakter zu bilden?
„Bayern ist Bildungsland“, so heißt es gleich zu Beginn. Richtig ist, dass in Vergleichsstudien Bayern immer wieder die vorderen Plätze belegt. Ebenso richtig ist aber, dass in Bayern seit etwa einer Dekade die Lernleistungen sinken, vor allem beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Bayern ist damit der Erste unter den Verlierern. Hinzu kommen physische und psychische Beeinträchtigungen von immer mehr Kindern und Jugendlichen, die Unterrichten immer schwieriger machen. So bleibt vom Bildungsland nicht mehr viel über, außer ein Bildungsnotstand. Helfen die Vorschläge, um aus der Misere zu kommen?
Die Ankündigung von 9000 neuen Stellen klingt nach Klotzen, nicht nach Kleckern
Da ist zunächst die Einführung einer „Verfassungsviertelstunde“ – eine nachvollziehbare Idee angesichts einer Krise der Demokratie. Aber Demokratiebildung im wöchentlichen 15-Minuten-Takt? Demokratie ist eine Lebensform und lässt sich nicht in ein paar Minuten vermitteln. Sie erfordert eine Grundatmosphäre und muss systemisch in der Schulkultur verankert sein.
Es folgt das Bekenntnis zum gegliederten Schulsystem, verbunden mit der Absicht, die Durchlässigkeit zu erhöhen. Das beruhigt verbandspolitische Geister, aber ist diese bayerische Selbstverständlichkeit wirklich in einem Koalitionsvertrag angebracht?

Die Ankündigung von 9000 neuen Stellen klingt nach Klotzen, nicht nach Kleckern. Eine Strategie, wie das kurz-, mittel- und langfristig gelingen soll, sucht man vergebens: keine Idee zur wertschätzenden Finanzierung von Mehrarbeit, keine Idee zu qualifizierten Quereinsteigern, keine Idee für eine Lehrerbildung der Zukunft.
Stattdessen die Forderung, den Lehrerberuf attraktiv zu machen. Wer ist schon gegen Attraktivität? Aber eine angedachte bessere Bezahlung allein sorgt dafür nicht. Wirksamer ist die Reduktion sachfremder Aufgaben und die Verbesserung der Rahmenbedingungen. Hierzu erfährt man wenig. Ebenso fehlen Ideen zur Stärkung von Schulleitungen.
Reine Absichtserklärungen sind die Aussagen zur Lehrerbildung: „Wir wollen … Wir wollen … prüfen wir …. wollen wir.“ Gut, wenn es nicht am Willen fehlt, umso mehr aber an Zielmarken, die eine Überprüfung der Ideen nach fünf Jahren zulassen würden. Das gilt auch für die vagen Aussagen zu Schulstandorten, Schülerbeförderung und Privatschulfinanzierung.

Evidenzfrei zeigt sich alles zur „digitalen Schule“: Bekommt man nicht mit, was in der Forschung diskutiert und in anderen Ländern entschieden wird? Die Unesco warnt im „Global Education Monitoring Report“ vor einer naiven Digitalisierung, das Karolinska Institut in Schweden fordert die Regierung auf, die Bremse bei der Digitalisierung im Bildungsbereich zu ziehen, und China versucht, mit Verboten bei der Handy-Nutzung zu retten, was zu retten ist. Bayern aber hält Kurs, berauscht sich weiter an der Technik und will allen Schülern ab der 5. Klasse ein Tablet in die Hand drücken. Nicht von einer notwendigen Medienerziehung ist die Rede, sondern von „digitalen Endgeräten“ und dergleichen. „Technik vor Pädagogik“ ist die Devise, die bereits heute schon Steuermittel im Umfang von über einer Milliarde Euro verschlungen hat, ohne auch nur ein Anzeichen von Lernwirksamkeit zu liefern.
Richtig ist die Förderung von Deutschkenntnissen als Schlüssel für gelingende Integration, ebenso wie die Stärkung des Lesens, Schreibens und Rechnens in der Grundschule. Wie das genau passieren soll, bleibt offen. Klar ist nur, dass die Koalitionäre zugeben, dass Bayern kein Bildungsland mehr ist, sonst bräuchte es diese selbstverständlichen Ziele auch nicht.
Mehr Schwimmen und eine dritte Sportstunde in der ersten Klasse ist angesichts des Rückgangs der körperlichen Verfassung der Kinder zu begrüßen. Schwierig wird das zu realisieren sein, denn gerade im Sportunterricht zeigt sich der Personalmangel. Wo keine Lehrer und keine Bademeister sind, kann kein Unterricht stattfinden – hoffentlich kommt man nicht wieder auf die Idee, wie während der Pandemie, digitale Schwimmkurse anzubieten.

Bei den Alltagskompetenzen wird gar von einem eigenen Fach gesprochen. Bis heute ist aber nicht geklärt, warum diese in der Schule zu vermitteln sind – was passiert denn noch zu Hause? Zudem gibt es keine Ausbildung, keinen Lehrplan und keine Lehrer.
Schließlich finden sich die frommen Wünsche zu einem Ausbau der Schulsozialarbeit, einer behutsamen Fortführung der Bemühungen um Inklusion sowie einer Stärkung beruflicher Orientierung.
Den Verfassern des Koalitionsvertrags kann man das Bekenntnis zu schulischer Bildung nicht absprechen, aber pädagogische Vernunft und strategische Weitsicht sind nicht immer erkennbar. Eines steht damit fest: Ein großer Wurf ist dieser Koalitionsvertrag aus pädagogischer Sicht nicht. Bildung in Bayern hat mehr verdient.
Zur Person: Klaus Zierer, 47, ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Buchautor. Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Thomas Gottfried hat er den Koalitionsvertrag analysiert.