Kristina Johlige Tolstoy hat eine große Familie, die über den gesamten Erdball verteilt ist. Vor zwei Jahren hat die Allgäuerin einige ihrer Verwandten zum ersten Mal gesehen. Das war bei einem großen Familientreffen in Russland. Anlass war der 100. Todestag ihres Ururgroßvaters Leo Tolstoi. „Das Treffen fand auf seinem Landgut statt. Wir waren eine Woche dort und haben verschiedene Stationen besucht, die mit seinem Leben zusammenhängen. Es war ein tolles Erlebnis“, erinnert sich die 44-Jährige. Weltweit gibt es 370 direkte Nachkommen des berühmten russischen Dichters.
In einem kleinen Weiler nahe Waltenhofen im Oberallgäu ist Johlige Tolstoy zu Hause. Hier lebt und arbeitet die in Kempten geborene Holzbildhauerin – umgeben von ländlicher Natur. Von ihr lässt sie sich inspirieren. „Ich arbeite sehr gerne im Garten. Aber natürlich nur, wenn es warm genug dafür ist.“ Jetzt im Winter trifft man sie in ihrem gemütlichen Wohnatelier an, in dem ein Holzofen für Wärme sorgt. Ihre Arbeiten hängen an den Wänden, liegen auf der Werkbank und zieren den Eingangsbereich. Es sind vorwiegend aus Holz geschnitzte oder aus Gips gegossene Skulpturen, in die die Künstlerin verschiedene Materialien aus der Natur wie etwa Fichtenzapfen, Blätter, Blumen, Gräser oder Weidenkätzchen einarbeitet.
Dass sie einmal einen künstlerischen Weg einschlagen würde, war Johlige Tolstoy schon früh bewusst. „Schon als Dreijährige habe ich Steine mit Hammer und Meißel bearbeitet.“ Geprägt wurde ihre Kreativität sowohl durch ihre schwedische Mutter, der Urenkelin Tolstois, als auch durch ihren aus Berlin stammenden Vater Gerhard Johlige, der im Allgäu als Bildhauer arbeitet. Von ihm bekam die Tochter nach der Schulzeit erste Unterweisungen, ehe sie die Berufsfachschule für Holzbildhauer in Garmisch-Partenkirchen besuchte.
„Es gibt in der großen Tolstoi-Familie viele Künstler. Aber durch den berühmten Namen haben sich einige nie getraut, an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt die Allgäuerin. Auch sie habe es zeitweise als Druck erlebt, Ururenkelin eines Dichters mit Weltruhm zu sein. Als Bildhauerin habe sie den Familiennamen Tolstoi, der je nach Herkunftsland in verschiedenen Schreibweisen existiert, lange als Bürde empfunden. Heute empfindet sie ihn als Inspiration. Dazu habe nicht zuletzt das Familientreffen in Russland beigetragen. Bevor Johlige Tolstoy daran teilnahm, habe sie Ahnenforschung betrieben. Ein Aha-Erlebnis hatte sie, als sie auf dem Landgut Collagen von Tolstois Ehefrau Sophia entdeckte. Ihre Ururgroßmutter hat in ihren Arbeiten getrocknete Blumen und Blätter verarbeitet - genauso wie sie selbst es macht. „Als ich das sah, bekam ich eine Gänsehaut. Und in diesem Moment wusste ich, wo die Verbindung zur Familie liegt.“
Im August findet das nächste Familien-Treffen auf Tolstois Landgut Jasnaya Polyana statt. Anlass ist diesmal der 150. Hochzeitstag von Leo und Sophia Tolstoi. Deren Ururenkelin aus dem Allgäu wird wieder dabei sein. „Ich freue mich schon drauf. Diese Treffen halten die Geschichte unserer Familie lebendig.“