Staub und Getöse liegen über Adiyaman. Bagger wühlen in Geröllhaufen, Bohrhammer knattern auf Betontrümmern. Der Verkehr staut sich hupend zurück, wo Straßen wegen Abrissarbeiten gesperrt sind. Zehn Monate ist das Erdbeben her, doch in dieser gebeutelten Stadt in Anatolien ist an Wiederaufbau noch nicht zu denken.
Tausende zerstörter Häuser und Wohnblocks sind abgerissen worden, seit am 6. Februar 2023 die Welt der Menschen hier erschüttert wurde, doch ebenso viele weitere liegen noch in Trümmern oder stehen wie schwankende Kulissen eines Horrorfilms überall in Adiyaman. In der Luft liegt der Asbeststaub von den Abrissarbeiten, in das Grundwasser sickern giftige Schwermetalle aus den Schutthaufen, und nachts machen wilde Hunde die Straßen unsicher. Die Überlebenden des Bebens kauern in Containerlagern am Stadtrand und fürchten sich vor dem Winter. Manchmal beneide sie die Todesopfer des Bebens, sagt eine Frau namens Elif: "Die Toten sind jetzt im Himmel, aber wir – wir leben in der Hölle."

Die Menschen im Erdbebengebiet in der Türkei fühlen sich vergessen
Elif will gehört werden. "Erzähl der Welt von uns in Adiyaman!", beschwört sie die Reporterin. "Kein Mensch da draußen weiß von uns, wir sind vergessen von der Welt." Die 34-Jährige lebt mit ihrem Mann und ihren drei Schulkindern in einem der fast tausend Container im Lager K8, das am Westrand der Stadt auf der freigeräumten Fläche eines eingestürzten Neubauviertels eingezäunt ist – eines von Dutzenden solcher Lager rings um die Stadt. Bei Regen tropft Wasser durch das Dach. Wer es sich leisten kann, hat eine Plastikplane über seinen Container gebreitet. Zu fünft in einem Raum von 21 Quadratmetern zu leben, das sei nicht leicht, sagt Elif. Die Kinder tun sich mit den Schularbeiten schwer, die Eltern hadern mit der Armut. Der Vater ist Herrenfriseur, "aber wer lässt sich in diesen Zeiten schon rasieren? Wir hatten eine schöne Wohnung, wir hatten ein gutes Leben, aber über Nacht war alles weg."
Das war die Nacht vom 5. auf den 6. Februar. Am frühen Morgen bebte die Erde von der Mittelmeerküste bis zum 400 Kilometer weiter östlich gelegenen Diyarbakir. Stunden nach dem ersten Beben der Stärke 7,8 folgte eine zweite Erschütterung der Stärke 7,7. In Adiyaman, einer Stadt von 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, starben rund 8400 Menschen – ein Fünftel der Gesamtopferzahl im türkischen Erdbebengebiet. Mehr als 17.000 Menschen wurden in Adiyaman verletzt, fast 1500 Gebäude stürzten ein; weitere 4100 Häuser wurden so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar sind.
"Unser Leben ist furchtbar, anders kann man es nicht nennen", sagt eine junge Frau namens Sila, die vor dem Lager auf einen Bus ins Stadtzentrum wartet. Sie selbst würde sich schon glücklich schätzen, wenn ihr und ihren Eltern endlich ein Container gegeben würde, sagt sie. Obwohl ihr Haus zerstört sei, müssten sie sich nach zehn Monaten noch immer mit in den Container ihrer Tante quetschen – sechs erwachsene Menschen in einem Zimmer. Sila steht seit einer Stunde an der Haltestelle – doch als der Bus endlich kommt, ist er so voll, dass kein einziger Passagier mehr hineinpasst. So sei es immer, sagen die Frauen an der Haltestelle verbittert, jetzt müssten sie wieder zwei Stunden warten. Ins Zentrum müssten sie aber auf jeden Fall, denn die Lebensmittelpreise in den Geschäften vor dem Lager könne keiner bezahlen. Sila hat die Schule abgebrochen, um bei einem Imbiss zu arbeiten – bis zum Beben lernte sie Erzieherin an einer Berufsfachschule, aber seither könne sie sich nicht einmal Heft und Kugelschreiber leisten, erzählt sie. Und warme Kleidung für den Winter erst recht nicht, fügt sie hinzu, und zupft am Spaghettiträger des Hemdchens, das sie unter ihrem T-Shirt trägt: "Sieh mal, ich gehe immer noch kurzärmlig."
In der türkischen Region bebt seit Jahrhunderten die Erde
Rund 660.000 Menschen im Erdbebengebiet leben zehn Monate nach der Katastrophe in den Wohncontainern; allein in Adiyaman sind es 130.000, und auch das erst seit wenigen Monaten; bis dahin hausten die meisten in Zelten. Die Containersiedlungen sind teils aus privaten Spenden finanziert und werden von der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad verwaltet. Stadtverwaltungen außerhalb des Erdbebengebiets halfen bei der Verlegung von Wasser-, Strom- und Abwasserleitungen in den Lagern.
Adiyaman liegt in der Nähe der Ostanatolischen Verwerfungslinie, die seit Jahrhunderten die Erde in der Region beben lässt. Eine Studie der Universität Adiyaman kam 2013 zu dem Ergebnis, die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens in der Gegend liege bei 90 Prozent. Trotzdem wurden in der Provinz fünf Jahre später mehr als 10.000 Gebäude trotz Baumängeln als bewohnbar eingestuft. Die Bauherren mussten lediglich eine Gebühr zahlen, um illegal hinzugefügte Stockwerke absegnen zu lassen. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geriet deshalb in schwere Kritik. Seine Wiederwahl hat das nicht gefährdet. Die Regierung darf sich in ihrem Kurs bestätigt fühlen, denn sie hat die Wahlen im Mai trotz der Erdbebenkatastrophe und trotz der Mängel bei der Nothilfe gewonnen. Selbst bei den Wählern im Unglücksgebiet konnte sie sich behaupten.
Alle hier richten sich darauf ein, lange in den Containern zu bleiben
Vor einigen Behausungen in der Containersiedlung K8, in der Elif und Sila mit ihren Familien wohnen, hängt Wäsche, andere sind mit Vorbauten erweitert worden. Vor dem Zaun um das Lager sind Supermärkte, ein Jugendzentrum und Hallenfußballplätze in Fertighallen untergebracht. Alle hier richten sich darauf ein, lange zu bleiben. Dass er und seine Familie eine Wohnung in einem der geplanten neuen Häuser im Erdbebengebiet erhalten werden, glaube er nicht, sagt ein Vater von drei Kindern. "Die bekommen sicher nur Leute mit Verbindungen."
Die Regierung von Erdogan will bis zum ersten Jahrestag des Bebens im Februar mehr als 300.000 neue Wohnungen an Obdachlose im Erdbebengebiet übergeben. Auch am Stadtrand von Adiyaman werden mehr als 16.000 neue Wohnungen hochgezogen. "Für ein stärkeres Adiyaman", steht auf Transparenten der Stadtverwaltung am Straßenrand.

Ismail Tosun ist Chef der Ärztekammer hier und hat derzeit noch ganz andere Sorgen. Erst die Hälfte der unbewohnbaren Gebäude sei abgerissen worden, sagt Tosun. "Beim Abriss wird Staub aufgewirbelt, und die Abrissstellen werden nicht bewässert. Asbest breitet sich aus", sagt er. Dazu die Giftstoffe im Trinkwasser. Das Geröll aus den zerstörten Häusern, das häufig mit Schwermetallen belastet ist, werde in der Nähe von Wohngebieten ausgekippt, sagt der Arzt. Amtliche Messungen der Luft- und Wasserqualität gibt es nicht, doch Tosun und die Ärzte in seinem Team sehen die Folgen des Gifts auch so jeden Tag. "Im Moment breiten sich Magen-Darm-Infektionen aus, besonders bei Kindern", sagt Tosun. Das liege vor allem daran, dass viele in Adiyaman das schmutzige Leitungswasser trinken, weil sie sich abgefülltes Trinkwasser nicht leisten können. Die türkischen Behörden setzen auf einen schnellen Wiederaufbau und ignorieren dabei Gesundheitsgefahren wie den giftigen Asbeststaub. Sie lassen stellenweise Neubauten von sieben Stockwerken errichten.
Die Türken außerhalb des Erdbebengebiets erfahren nicht viel von diesen Problemen. "Wenn man sich die Zeitungen anschaut, dann ist das hier ein Rosengarten", sagt Tosun. "Aber in Wirklichkeit geht nichts voran." Seit dem Beben kümmern sich Tosun, die Ärzte seiner Kammer und Freiwillige aus anderen Landesteilen um die Opfer. Doch die Welle der Hilfsbereitschaft unmittelbar nach dem Beben ist längst verebbt. Inzwischen hat Tosun es schwer, Helfer von außerhalb zu finden.

Dabei stehen die Mediziner erst am Anfang ihrer Arbeit. Die Hilfe für die Erdbebenopfer werde Jahre dauern, schätzt Tosun. Die Ärztekammer hat einen Verein gegründet, der Spenden sammeln soll, um einen Kindergarten zu bauen. Tosun empfängt seine Patienten und Patientinnen in einer Klinik in einem zerstörten Wohngebiet. Draußen fressen sich die Bagger durch den Schutt. Auch zehn Monate nach der Katastrophe muss die Hauptdurchgangsstraße von Adiyaman, der Atatürk-Boulevard, immer wieder gesperrt werden, weil Gebäude am Straßenrand abgerissen werden. Kipplaster mit Abraum und Tieflader mit Baggern oder Wohncontainern schieben sich durch den Stau. Viele Apotheken, Cafés, Zeitungsredaktionen und Geschäfte sind in Wohncontainern untergebracht.
Das schöne Adiyaman, wo sich Menschen abends in gut beleuchteten Parks trafen, existiere nicht mehr, sagt Tosun. "Heute sind die Nächte stockdunkel, weil die Straßenlampen nicht mehr funktionieren. Die Leute fürchten sich davor, auf die Straße zu gehen." Nicht nur wegen der wilden Hunde.
Rund 50.000 Neubauwohnungen werde die Stadt brauchen. Den optimistischen Voraussagen der Regierung auf schnelle Abhilfe für die Wohnungsnot glaubt der Mediziner nicht. Tosun ist sicher, dass viele Menschen noch lange in den Containern bleiben müssen: "Fünf bis zehn Jahre wird das noch dauern. Vorher wird das nichts."