Unfall, Schlaganfall, fortschreitende Demenz – schnell kann es passieren, dass ein Mensch seine alltäglichen Dinge nicht mehr selbst regeln kann. Dann übernehmen andere die Entscheidung für Gesundheitsfürsorge, Wohnung, Vermögen. Seit einer grundlegenden Gesetzesänderung vor 25 Jahren kann das zwar nicht mehr zu einer generellen Entmündigung führen. Aber auch eine gesetzliche Betreuung, die nur Teilbereiche betrifft, ist eine Vorstellung, die nicht allen das Gefühl gibt, im Notfall gut behütet zu sein.
Nicht mehr über alle Bereiche des eigenen Lebens bestimmen zu können, kann ein Grund für Unbehagen sein. Berichte über gesetzliche Betreuer, die das Vertrauen ihrer Klienten missbraucht oder auch nur schlampig gearbeitet haben, kommen dazu.
Prof. Volker Thieler vom Institut für Betreuungsrecht der Kester-Haeusler-Stiftung (Fürstenfeldbruck) geht von Missbrauchsfällen in Deutschland von mindestens 20 Prozent aus. Statistiken gebe es zwar keine, aber seine Forschungsstelle erfahre täglich von Problemfällen und Missständen. Er nennt Beispiele: Angehörige erführen nichts von Betreuungsverfahren und erhalten Besuchsverbote von Betreuern. Immobilien, die oftmals über Generationen in der Familie sind, würden ohne Beteiligung von Angehörigen verkauft. Familienandenken landeten auf dem Müll, wenn Wohnungen aufgelöst werden.
Es gibt aber auch andere Erfahrungen. Betreuungsrichterin Ilona Conver in Haßfurt erzählt, sie habe in zehn Berufsjahren in Bamberg und Haßfurt erst einmal erlebt, dass das Verhalten eines berufsmäßigen Betreuers ein Fall für die Kripo wurde, und nicht mehr als drei Fälle, in denen sich Angehörige als ehrenamtliche Betreuer vor dem Gesetz unredlich verhalten hätten. Und in solchen Fällen gehe es dazu oft nur darum, dass Dinge gehandhabt würden wie bisher, etwa die Rente weiter in den Familienunterhalt fließe, was bei gesetzlicher Betreuung nicht mehr so möglich sei.
Conver schildert, wie eine Betreuung zustande kommt: Angehörige wenden sich beispielsweise an das Betreuungsgericht, weil ein Kind mit geistiger Behinderung volljährig wird und die Fürsorge damit neu geregelt werden muss. Oder sie melden sich, weil alte Angehörige vielleicht aufgrund einer Demenz nicht mehr in der Lage sind, sich selbst um ihre Dinge zu kümmern. „Das sind ein Drittel bis die Hälfte meiner Fälle“, sagt die Richterin. Statistik führe sie aber keine.
Zur zweiten Fallgruppe gehören die Menschen, die nach einer Operation, nach Unfall oder bei schwerer Krankheit etwa beatmet werden müssten. Dann wendet sich die Klinik an das Betreuungsgericht.
Und die dritte Gruppe sind diejenigen, um die sich das Umfeld wie Nachbarn oder der Bürgermeister sorgen, weil sie beispielsweise massiv verwahrlosen. „Das kommt gerade in kleinen Gemeinden im Landkreis Haßberge vor“, sagt Conver.
Das Gericht gibt den Vorgang im Normalfall zunächst an die Betreuungsstelle. Diese Behörde ist bei kreisfreien Städten und Landkreisen angesiedelt. Dort nehmen sich laut Conver in der Regel Sozialarbeiter der Sache an, schauen, was sozialpädagogisch sinnvoll ist und ob eine Vorsorgevollmacht vorliegt. Nicht selten gebe es das Dokument und der Fall sei damit schon geklärt.
Zahlen, wie oft eine Vollmacht vorliegt, hat die Richterin nicht, sieht jedoch eine zunehmende Tendenz. Immerhin kann die Pressesprecherin des Würzburger Landratsamtes, Eva-Maria Schorno, für die dortige Betreuungsstelle sagen, dass das Interesse an Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen seit einigen Jahren sehr zunimmt. Das lasse sich bei persönlichen Beratungsgesprächen und Informationsveranstaltungen der Stelle ablesen. Außerdem melde die Bundesnotarkammer in Berlin eine deutliche Zunahme der dort registrierten Vollmachten.
Gibt es keine Vollmacht, berichtet die Betreuungsstelle dem Gericht, welchen Bedarf sie ermittelt hat und schlägt eine Betreuerin oder einen Betreuer vor. Das Gericht entscheidet dann. Es folge oft dem Vorschlag der Betreuungsstelle, sagt Conver. Aber nicht immer. Sie erzählt ein Beispiel: Die Tochter einer alten Dame habe selbst psychische Probleme. Die Fachleute aus dem Landratsamt fürchten, sie sei mit einer Betreuung der Mutter überlastet und schlägt jemanden außerhalb der Familie vor, obwohl Mutter und Tochter das nicht wollen. „Dann sage ich schon einmal: Die Tochter soll es probieren, schließlich ist nach dem Gesetz die Äußerung der betroffenen Person maßgebend“, so Conver.
Überhaupt ist ihr wichtig, die Angst zu dämpfen, dass Menschen, die sich nicht mehr selbst um ihre Angelegenheiten kümmern können, jemanden vor die Nase gesetzt bekommen, der für sie entscheidet. „Laut Gesetz ist ein berufsmäßiger Betreuer zu vermeiden“, sagt die Richterin. Angehörige und Freunde hätten Vorrang, wenn der betreute Mensch einverstanden ist.
Zahlen dazu kann die Betreuungsstelle im Würzburger Landratsamt nennen: 62 Prozent der Betreuungen werden durch Angehörige ehrenamtlich geführt, 33 Prozent durch Berufsbetreuer und fünf Prozent durch weitere Ehrenamtliche und Betreuer aus dem sozialen Umfeld und dem Betreuungsverein.
Die Betreuungsvereine stellen als Dritte im Bunde mit Gericht und kommunaler Behörde nicht nur berufsmäßige und ehrenamtliche Betreuer. Sie schulen und beraten auch, sagt Birgit Modigell vom Schweinfurter Betreuungsverein der AWO, der bereits 1992 gegründet wurde. Dort kümmern sich zwei Sozialpädagoginnen um die besonders komplizierten Fälle. „Das sind immer mehr junge Leute mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, einige in Überschuldungssituationen.“ Nach dem Gesetz soll eine Betreuung nur die Bereiche betreffen, für die sie nötig ist. Sie kann sich auf Gesundheitsvorsorge, Aufenthaltsbestimmung, Unterbringung, Vermögen beziehen, sagt Modigell.
„Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen steht im Mittelpunkt aller Entscheidungen“, so die Würzburger Landratsamtssprecherin Schorno. Dafür, dass der Wille der Betroffenen gründlich ermittelt und ernst genommen wird, ist das Betreuungsgericht zuständig. Ihm müssen Betreuer zunächst Vermögensaufstellungen ihrer Klienten vorlegen und im Laufe der Betreuung regelmäßig berichten. „Eine Kontrolle der Betreuer findet kaum statt, da die Gerichte völlig überlastet sind“, sagt jedoch Betreuungsforscher Thieler. Er sieht Mängel im System: Betreuer könnten über wichtige Vermögens- und Gesundheitsfragen entscheiden, ohne dafür ausgebildet zu sein, kritisiert er.
Studien von Transparency International (TI) Deutschland und der Polizeihochschule in Münster sehen diese Probleme ebenfalls. Die Zahl rechtlicher Betreuungen sei von 420 000 (1992) auf über 1,3 Millionen (2012) gestiegen. Ein Rechtspfleger beim Betreuungsgericht sei so im Durchschnitt für 1000 Verfahren zuständig. Für die selbstständige Tätigkeit als Berufsbetreuer gebe es keine definierten Zugangskriterien. Dazu gebe es im Laufe einer Betreuung bei Haushaltsauflösungen, Immobiliengeschäften oder Vermögensverwaltung viele Einfallstore für Betrug und Korruption, so TI.
Dem pflichten die Experten der Polizeihochschule bei. Sie fanden bei Interviews mit Betroffenen heraus, dass Straftaten zu zwei Dritteln von Betreuern aus dem Familien- oder Freundeskreis verübt wurden. Belastbare Daten gebe es allerdings nicht. Das Dunkelfeld sei groß.
Und es gebe auch die Fälle, bei denen es schwer ist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, sagt Betreuungsrichterin Ilona Conver aus Haßfurt. Manchmal liege es in der Natur einer psychischen Erkrankung, dass ein Betroffener völlig unzufrieden mit seiner Gesamtsituation sei, sich verwaltet und bevormundet fühlt. „Ich neige dazu, dann – wenn es irgendwie geht – die Betreuung aufzuheben“, so die Richterin. Eine Formulierung im Gesetz macht außerdem gerade Karriere: Sie besagt, dass eine Betreuung nicht erforderlich ist, soweit die Angelegenheiten eines betroffenen Menschen auch durch „andere Hilfen“ geregelt werden könnten. Hintergrund ist unter anderem, dass Betreuungen teuer sind. So sind die Gesamtkosten der rechtlichen Betreuung in Bayern mittlerweile auf fast 100 Millionen Euro im Jahr angewachsen.
Ein Betreuungsvermeidungs-Projekt betreibt beispielsweise der Betreuungsverein „Netzwerk“ in Haßfurt. Dort gibt es für Unterstützungsbedürftige die Möglichkeit, sich drei Monate beraten und begleiten zu lassen. Den Grundgedanken beschreibt Vereinsbetreuer Bernd Hermann: „Menschen in einer Misere brauchen oft nur einen kleinen Anstoß.“ Häufig kämpften sie auch mit einem ganzen Bündel von Problemen, für die es schon viele Beratungsstellen gebe, zu denen sie nur geleitet werden müssten.
Die Betreuungsstelle im Haßfurter Landratsamt beauftragt den Verein, sich in bestimmten Fällen um niederschwellige Hilfen zu kümmern. Die Frist von drei Monaten reiche meist, sagt Hermann. Der typische Klient, bei dem das Assistenzprojekt erfolgreich ist, sei eher jünger, leide an einer psychischen Erkrankung, bemühe sich schon, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, stehe aber vor wirtschaftlichen Problemen und Schwierigkeiten mit Behörden. Kompliziertere und langwierigere Fälle gehen zurück ans Landratsamt. 2016 kümmerte sich „Netzwerk“ in diesem Projekt um 24 Menschen, von denen sechs doch in eine Betreuung vermittelt wurden.
Gesetzliche Betreuung Das neue Betreuungsrecht gilt seit 1992. Es änderte mehrere alte Gesetze, die sich darauf beziehen, dass Volljährige ihre eigenen Angelegenheiten nicht regeln können. Laut der Vereinigung für sozialpädagogische und wirtschaftliche Betreuung war das alte Recht ein sehr starrer Eingriff in die Rechte der Betroffenen. Sie konnten auch keine Teilaufgaben mehr selbst behalten. Durch die meist üblichen Amtsvormund- und -pflegschaften mit bis zu 200 Fällen bei einem Sachbearbeiter seien die Betroffenen weitgehend anonym verwaltet worden. Das neue Recht lasse den Betreuten ihre Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit außerhalb der definierten Aufgaben der rechtlichen Betreuung. Außerdem habe auch bei deren Entscheidungen der erklärte Wille der Betroffenen Vorrang. Auch sei zu prüfen, ob andere Hilfen Betreuung unnötig machen oder einschränken könnten. Eignungskriterien für ehrenamtliche und an berufsmäßige Betreuer hat der Betreuungsgerichtstag (BGT) formuliert: Unter anderem soll ein Betreuer selbst in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Er muss mit Büroarbeit vertraut und bereit sein, mit den Betreuten und Kooperationspartnern zusammenzuarbeiten. Von berufsmäßigen Betreuern fordert der BGT darüber hinaus besondere Fachkenntnisse, die über Ausbildungen im pädagogischen und pflegerischen Feld, als Psychologen, Juristen, Wirtschafts- oder Verwaltungsfachleute und durch Fortbildungen erworben wurden. BGT und Berufsverbände arbeiten zudem an einem einheitlichen Berufsbild und Bildungsmodulen. Bezahlt werden Betreuer pauschal. Professor Volker Thieler vom Institut für Betreuungsrecht der Kester-Haeusler-Stiftung kritisiert das. Betreuer könnten pro Fall jährlich 2500 Euro bekommen, egal ob sie viel oder wenig arbeiteten. „Bei 100 Fällen, die der Betreuer üblicherweise in Deutschland hat, sind dies 250 000 Euro im Jahr, ohne dass irgendeine Ausbildung notwendig ist“, so Thieler. Birgit Modigell vom Betreuungsverein der Schweinfurter AWO erklärt, dass sich die Stundensätze für Vereins- und Berufsbetreuer je nach Vorbildung der Betreuenden und Umständen der Betreuten staffeln. Ein häufiger Vorwurf gegenüber Berufsbetreuern laute, sie nähmen sich nicht genügend Zeit, sagt sie. Doch stünden für einen Betreuten, der zu Hause wohnt und für den häufig sehr viel organisiert werden müsse, nur 3,5 Stunden im Monat zur Verfügung. bea