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Gesundheit: Tabus und Mythen: Warum wir mehr über den weiblichen Körper reden sollten

Gesundheit

Tabus und Mythen: Warum wir mehr über den weiblichen Körper reden sollten

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    Der männliche Blick auf den Frauenkörper: Ende des 15. Jahrhunderts malte Sandro Botticelli sein bekanntes Gemälde "Die Geburt der Venus".
    Der männliche Blick auf den Frauenkörper: Ende des 15. Jahrhunderts malte Sandro Botticelli sein bekanntes Gemälde "Die Geburt der Venus". Foto: Adobe Stock

    Wohl geformt soll er sein. Nicht zu zierlich, nicht zu kräftig. Mit runden Kurven, aber ohne Fettpölsterchen. Große Brüste, schmale Taille, neunzig, sechzig, neunzig. Straff, glattrasiert und ohne Dellen. Nicht zu klein, nicht zu groß. Der Körper einer Frau muss einiges erfüllen, um als weiblich zu gelten. Um nicht abzuweichen von einer vermeintlichen Norm. 

    Er wird trainiert, optimiert und operiert, um perfekt zu sein. Über sein Aussehen wird viel geredet, über seine biologischen Besonderheiten weniger. Menstruation, Geburt, Menopause, viele Themen rund um den Frauenkörper sind ein Tabu. Aber woran liegt das? Wieso halten sich veraltete Mythen über weibliche Lust, Periodenblut und Schmerzempfinden, obwohl sie sich längst als falsch erwiesen haben? Und welche Folgen hat das? Zeit für eine körperliche Erkundungstour.

    Frauen haben ein höheres Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben

    Vierter Stock, lachsfarbenes Gebäude, Blick in den gemütlichen Innenhof. Das Brandenburger Tor liegt Luftlinie fünf Kilometer entfernt. Hier, auf dem Gelände des Evangelischen Geriatriezentrums im Norden von Berlin, hat Gertraud Stadler ihr Büro. Die 48-Jährige leitet das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité. Das einzige seiner Art in Deutschland, vor 20 Jahren gegründet mit dem Ziel, Geschlechterunterschiede in Gesundheit und Krankheit zu untersuchen. Inzwischen forschen rund 30 Frauen und Männer in fünf Bereichen: Prävention, Versorgung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Methodenentwicklung sowie Geschlecht und Diversität. 

    „Bei den beiden Begriffen werden viele hellhörig, da gibt es einige politische Missverständnisse“, erklärt Stadler gleich vorweg. „Wir wollen niemanden bekehren, sondern die Versorgung für alle verbessern.“ Weniger Gender-Gaga, mehr individualisierte Medizin. Sie haben einiges zu tun, denn bislang orientiert sich die Medizin vor allem am Mann und ignoriert die kleinen Unterschiede, die manchmal sogar Leben retten können. Aber dazu gleich mehr. 

    Gertraud Stadler leitet das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité.
    Gertraud Stadler leitet das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité. Foto: Felicitas Lachmayr

    Erst mal fragen: Wie sehr unterscheidet sich der weibliche Körper vom männlichen? In jeder einzelnen Zelle, sagt Stadler. Denn Frauen tragen in ihren Zellen neben 44 Autosomen zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Bedeutet: Anderer Hormonhaushalt, andere Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf- und Immunsystem. „Frauen sind nicht leichte, kleine Männer, sondern chromosomal, hormonell und anatomisch anders ausgestattet“, sagt Stadler. Sie haben mehr Fettgewebe und weniger Muskelmasse, ihr Stoffwechsel ist langsamer, was dazu führt, dass sich Krankheiten unterschiedlich äußern können und manchmal verschieden behandelt werden müssen.

    Bekanntes Beispiel: Herzinfarkt. Frauen haben ein höheres Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, denn er wird oft später oder zu spät erkannt. Zum einen, weil die Symptome vielfältiger und schwerer zu diagnostizieren sind. Frauen haben nicht nur ein Druckgefühl im Brustraum. Bei ihnen können auch Müdigkeit, Übelkeit oder Schmerzen im Nacken, Kiefer oder zwischen den Schulterblättern ein Anzeichen sein. 

    Zum anderen denken Frauen in der Vorsorge weniger an ihre Herzgesundheit. Sie kommen später in die Klinik, werden schlechter versorgt und nehmen seltener invasive Eingriffe in Anspruch, weil sich ein anschließender Reha-Aufenthalt oft schlecht mit ihrer Lebensrealität inklusive Kinderbetreuung und Job vereinbaren lasse. Eine Verkettung von Umständen, die dazu führt, dass Frauen häufiger an Herzinfarkt sterben, die sich aber unterbrechen ließe, wenn die Medizin geschlechtersensibler ausgerichtet wäre.

    Expertin sagt: "Alle sexualisierten Körperteile sind schambehaftet"

    „In der Medizin bedeutet die Gleichberechtigung von Frauen eine ungleiche Behandlung“, sagt die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Stefanie Schmid-Altringer. Biologische Unterschiede erfassbar zu machen, sei nur ein Faktor. „Langfristig geht es um eine möglichst personalisierte Medizin, die individuelle Lebenssituationen berücksichtigt." 

    „In der Medizin bedeutet die Gleichberechtigung von Frauen eine ungleiche Behandlung“, sagt die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Stefanie Schmid-Altringer.
    „In der Medizin bedeutet die Gleichberechtigung von Frauen eine ungleiche Behandlung“, sagt die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Stefanie Schmid-Altringer. Foto: Schmid-Altringer

    Schmid-Altringer beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema Frauengesundheit. Sie hat die bundesweite Erzählcafé-Aktion rund um Schwangerschaft und Geburt ins Leben gerufen und schon vor 25 Jahren einen Film über Herzinfarkt bei Frauen gedreht. „Damals war das Thema neu, inzwischen wissen viele, dass Frauen andere Symptome haben können.“ Doch eins hat sich nicht geändert: Wenn eine Frau mit einem Herzinfarkt auf der Straße liegt, gehen mehr Menschen an ihr vorbei als an einem Mann. Ein möglicher Grund könnten die Brüste sein. „Viele schrecken vor einer Herzdruckmassage zurück oder wissen nicht, wie es bei Frauen geht, weil es in den Erste-Hilfe-Kursen nicht berücksichtigt wird“, sagt Schmid-Altringer. „Das ist ernüchternd, denn das ist absolutes Grundwissen.“

    Brüste als Hindernis? Als Hürde, die über Leben und Tod entscheiden kann? Spätestens damit sind sie politisch. In der Werbung oder Kunst ist die weibliche Brust allgegenwärtig. Sie wird nackt oder bedeckt in Szene gesetzt und sexualisiert. Aber ohne erotischen Kontext wird sie schnell zum Tabu. Sichtbare Brustwarzen gelten als obszön und anstößig, bedrohen gar die öffentliche Ordnung oder die Sicherheit in den sozialen Medien. „Der nackte Oberkörper wird bei Männern als vollkommen normal, bei Frauen hingegen als unerhört empfunden“, sagt Gertraut Stadler. „Diese gesellschaftliche Prägung hat Folgen und beeinflusst letztlich sogar die Bereitschaft oder die Fähigkeit, Erste Hilfe zu leisten.“

    Frauen demonstrieren mit nacktem Oberkörper. Sie kritisiert wird, dass weibliche Brüste unter den §183a StGB "Erregung öffentlichen Ärgernisses" fallen.
    Frauen demonstrieren mit nacktem Oberkörper. Sie kritisiert wird, dass weibliche Brüste unter den §183a StGB "Erregung öffentlichen Ärgernisses" fallen. Foto: dpa

    Aber Brüste sind nicht die einzige Tabuzone. Alle sexualisierten Körperteile sind schambehaftet, sagt Stadler. Viele wissen nicht, wie eine Klitoris aussieht oder kennen den Unterschied zwischen einer Vagina und einer Vulva nicht. „Es gibt noch viel Aufklärungsbedarf rund um den weiblichen Körper“, sagt Stadler. Oft haben Frauen selbst ein vollkommen verzerrtes Körperbild. Nicht umsonst leiden sie fünfmal häufiger an Essstörungen als Männer. Ein normaler, gesunder Körper wird häufig als imperfekt wahrgenommen, als zu dick oder zu muskulös. „Aber Körper sind nicht symmetrisch. Es ist völlig normal, dass Brüste ungleich groß sind, trotzdem schämen sich viele dafür“, sagt Stadler. 

    Frauen verlieren rund 60 Milliliter Blut während ihrer Periode

    Der weibliche Körper ist keine Privatsache. Seit Jahrhunderten wird er von der Gesellschaft beäugt und bewertet. Schönheitsideale dienen dem Konsumkapitalismus, Mädchen werden früh sozialisiert, in ihre Schönheit zu investieren, um dem Auge des Betrachters zu gefallen. Davon bleibt auch der Intimbereich nicht verschont. „Vulven haben unterschiedlichste Formen und Größen, aber die Vorstellungen dessen, was normal ist, sind vollkommen verschoben“, sagt Stadler. Die Folge: Immer mehr Frauen unterziehen sich für eine sogenannte Barbie-Vagina einer Intimkorrektur. Umfragen der Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie zufolge entfielen 2022 vier Prozent der Schönheitsoperationen bei Frauen auf den Intimbereich. Damit sind die Eingriffe fast so populär wie Nasen-OPs.

    Vulven haben unterschiedlichste Formen und Größen.
    Vulven haben unterschiedlichste Formen und Größen. Foto: Adobe Stock

    Wenn gerade schon von Vulven und Vaginas die Rede ist, Achtung Triggerwarnung: Jetzt wird es blutig, denn bei Tabus über den weiblichen Körper bleibt die Periode nicht aus. Durchschnittlich 60 Milliliter oder anderthalb Schnapsgläser Blut verliert eine Frau jeden Monat. Um das aufzufangen, gibt sie in ihrem Leben mehrere Tausend Euro für Menstruations-Artikel aus. Obwohl rund zwei Milliarden Mädchen und Frauen auf der Welt jeden Monat menstruieren, ist die Regelblutung immer noch mit negativen Gefühlen wie Scham und Ekel verbunden. 

    Die Tabuisierung reicht weit zurück. Schon in der Antike galten menstruierende Frauen als sonderbar, die christliche Kirche ächtete sie als unrein und deutete die Periode als Strafe Gottes für Evas Sündenfall. Der Schweizer Arzt Paracelsus schwadronierte Anfang des 16. Jahrhunderts gar von der giftigen Wirkung des Blutes. In den patriarchalen Gesellschaften diente die negative Konnotation als Legitimation, um Frauen systematisch abzuwerten und auszugrenzen.

    Mit der Periode ändern sich Körpergefühl und Leistungsfähigkeit

    Das Stigma hinterlässt bis heute Spuren. Verstohlen werden Tampons weitergereicht und Ausreden für den Schwimmbadbesuch erfunden. Die Periode wird diskret verheimlicht, dabei leiden viele Frauen an Menstruationsbeschwerden und hangeln sich mit Schmerztabletten durch den Tag. Aber über Periodenschmerzen spricht man nicht so normal wie über Kopfschmerzen. 

    „Viele Frauen wissen nicht, wie sie mit ihren Beschwerden am besten umgehen“, sagt Stadler. „Beim Arzt werden sie teils nicht ernst genommen oder sie bekommen einfach die Pille verschrieben.“ In einigen Ländern wird im Arbeitsalltag Rücksicht genommen, in Japan können Frauen bei Menstruationsbeschwerden einen Tag im Monat freinehmen. Aber zyklusgerecht leben die wenigsten Frauen in westlichen Leistungsgesellschaften, auch wenn das Bewusstsein langsam wächst und manche Spitzensportlerinnen ihren Trainingsplan an ihren Zyklus anpassen.

    Frauen geben in ihrem Leben mehrere tausend Euro für Mestruations-Artikel aus.
    Frauen geben in ihrem Leben mehrere tausend Euro für Mestruations-Artikel aus. Foto: Franziska Gabbert, dpa

    Denn mit der Periode ändern sich Körpergefühl und Leistungsfähigkeit. In der ersten Hälfte steigt der Östrogenspiegel, Frauen fühlen sich oft fitter, sind weniger schmerzempfindlich und haben eine erhöhte Libido. In der zweiten Phase zwischen Eisprung und Periode sinkt das Östrogen. Manche Frauen leiden dann am prämenstruellen Syndrom, kurz PMS. Gereiztheit, Kopfschmerzen, Spannungsgefühle in der Brust. „Darüber wird noch zu wenig gesprochen“, sagt Schmid-Altringer. „Je mehr Frauen über ihren Körper wissen, desto eleganter können sie mit ihrem Zyklus surfen. Männer dürften sich übrigens auch mehr darüber informieren.“

    Ein weiteres Tabu: Endometriose, eine chronische Erkrankung, bei der die Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutterhöhle wuchert. Die Fruchtbarkeit ist verringert. Zudem leiden Betroffene an starken Unterleibsschmerzen, die häufig zusammen mit der Regelblutung auftreten. Oft vergehen Jahre, bis eine Endometriose diagnostiziert wird. „Meistens bekommen Frauen die Pille verschrieben gegen die Schmerzen“, sagt Schmid-Altringer. „Dadurch wird die eigentliche Krankheit verschleiert.“ Obwohl laut RKI bis zu 15 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter an Endometriose leiden, ist die Erkrankung noch nicht hinreichend erforscht. 

    70 Prozent der Medizin-Studierenden in Deutschland sind Frauen

    Das Wissen über den weiblichen Körper ist teils rudimentär. Das merkt die Expertin auch bei Workshops an Schulen. Das beginnt bei einfachen Fragen: Wie benutzt man ein Tampon? Wie pflegt man seinen Intimbereich? „Es geht so weit, dass manche Schüler nicht wissen, wie viele Körperöffnungen eine Frau hat“, sagt Schmid-Altringer. Der weibliche Körper wird objektiviert, mystifiziert, sexualisiert, aber auch zensiert. „We all are overnewsed but underinformed“, schrieb Aldous Huxley in seinem Roman „Schöne neue Welt“. Wir sind gut informiert und wissen wenig. 

    Mehr als 100.000 Menschen studieren in Deutschland Medizin, darunter 70 Prozent Frauen.
    Mehr als 100.000 Menschen studieren in Deutschland Medizin, darunter 70 Prozent Frauen. Foto: Waltraud Grubitzsch, dpa

    Die Wissenslücken beginnen in der Schule und ziehen sich bis ins Studium fort. Mehr als 100.000 Menschen studieren in Deutschland Medizin, darunter 70 Prozent Frauen. Doch an den wenigstens Unis ist das Studium geschlechtersensibel gestaltet. Schon der Blick in Anatomiebücher zeigt: Der Mann steht im Fokus. An ihm werden menschliche Organe erklärt und Körperkreisläufe illustriert. Frauenkörper werden oft nur abgebildet, wenn es um die Fortpflanzung geht. „Das normalisiert den männerzentrierten Blick in der Medizin“, sagt Stadler. 

    Der Mann als Norm, die Frau nur eine Abweichung? Neu ist die Vorstellung nicht, schon Eva ward aus Adams Rippe geformt. In der patriarchalen Gesellschaft wurde die Frau jahrhundertelang im Bezug zum Mann gelesen. Als das unvollkommene, schwache, das andere Geschlecht, wie Simone de Beauvoir es nannte. „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich; sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen“, schrieb die Philosophin. Dieser Androzentrismus prägte die Wissenschaft, Religion, Kunstgeschichte genauso wie die Medizin. Das wirkt bis heute nach.

    Bei Lungenerkrankungen wurden Frauen bislang kaum berücksichtigt

    Frauen haben nicht nur ein höheres Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben. Sie bekommen auch häufiger Psychopharmaka verschrieben. Weil ihr Körper Medikamente langsamer abbaut, ist die vorgeschriebene Dosis oft zu hoch. „Studien belegen, dass Frauen, die Schlafmittel nehmen, am nächsten Tag häufiger einen Verkehrsunfall haben, weil die Dosierung nicht an den Stoffwechsel angepasst war und nachwirkt“, sagt Schmid-Altringer. Zudem sind zwei Drittel der Medikamentenabhängigen Frauen. Bei einer geschlechtersensiblen Behandlung würde dies berücksichtigt und Frauen erhielten vorn herein eine niedrigere Dosis. 

    Aber auch bei der Wirkung von Impfstoffen gibt es Unterschiede, denn das Immunsystem von Frauen ist schneller, aggressiver und schlagkräftiger. Sie erkranken seltener an Vireninfektionen, dafür leiden sie häufiger an Autoimmunkrankheiten und reagieren stärker auf Impfungen, wie sich auch bei Corona zeigte.

    Das Immunsystem von Frauen ist schneller, aggressiver und schlagkräftiger. Sie erkranken seltener an Vireninfektionen, dafür reagieren sie  stärker auf Impfungen, wie sich bei Corona zeigte.
    Das Immunsystem von Frauen ist schneller, aggressiver und schlagkräftiger. Sie erkranken seltener an Vireninfektionen, dafür reagieren sie stärker auf Impfungen, wie sich bei Corona zeigte. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Ein Krankheitsbereich, der geschlechtsspezifisch bislang kaum berücksichtigt wurde: Lungenerkrankungen. Bei Frauen sind die Atemwege schmaler und ihre Wände dünner, die Bronchien reagieren sensibler. Damit gefährden Raucherinnen ihre Lunge stärker als Männer. Trotzdem gilt Lungenkrebs noch immer als Männerkrankheit. Auch zur chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, kurz COPD, einer typischen Raucher-Krankheit, bei der sich die Atemwege entzünden, gibt es bislang kaum Studien mit weiblichen Betroffenen.

    Ein harmloses Beispiel, warum geschlechtersensible Medizin hilfreich sein kann: Wegen ihrer Beckenform haben Frauen eine breitere Beinachse. Um Meniskusprobleme zu vermeiden, könnten sie gezielt ihre Knie trainieren. Aber Krafttraining betreiben tendenziell eher Männer, weil Muskeln männlich konnotiert sind. Schmid-Altringer kann Dutzende solcher Beispiele nennen, hat ganze Bücher damit gefüllt und den Ratgeber "Gendermedizin: Warum Frauen eine andere Medizin brauchen" geschrieben. Sie sagt: „Das alles ließe sich vermeiden, wenn Ungleichheiten wahrgenommen und ernst genommen würden.“ In der Forschung, Lehre und Praxis werde Gendermedizin noch viel zu wenig berücksichtigt. 

    Aber auch in den Köpfen der Frauen ist sie noch nicht angekommen. „Frauen sind keine Opfer der Medizin. Frauen müssen auch selbst aktiv werden und dazu beitragen, dass sich etwas ändert“, sagt Schmid-Altringer. Das beginnt damit, dass sie auf sich achten, ihren Körper im Blick haben und auf ihre Gefühle vertrauen. Wer sich nicht wohl oder ernst genommen fühlt, sollte sich eine Zweitmeinung einholen, so die Expertin. Das Zwischenmenschliche sei oft belastend, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht mit der nötigen Sensibilität behandeln.

    Beschwerden von Frauen werden oft nicht ernst genommen

    Dass Leiden von Frauen nicht ernst genommen werden, ist keine Seltenheit. „Sie werden schnell mal als Menstruationsbeschwerden abgetan“, sagt Stadler. Die Periode wurde übrigens auch lange Zeit fälschlicherweise mit psychischen Störungsbildern in Verbindung gebracht. Das Klischee der hysterischen Frau ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Nach dem altgriechischen Wort "hystera" für Gebärmutter benannt, soll die Hysterie typisch weiblich gewesen sein, dabei diente das vermeintliche Krankheitsbild als Machtinstrument, um Frauen ihrer Selbstbestimmung zu berauben. 

    „Er glaubt mir nicht, dass ich krank bin. Was soll ich tun?“, schrieb die amerikanische Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilmanes 1892 in ihrer Kurzgeschichte „Die gelbe Tapete“. Sie erzählt von einer Frau, die an einer postnatalen Depression leidet, und von ihrem Mann, einem Arzt, wegen ihrer hysterischen Neigung im Schlafzimmer eingesperrt wird. Ein feministischer Klassiker und satirischer Kommentar auf die damalige Medizin. Doch die Botschaft ist immer noch relevant, denn Frauen werden mit ihren Leiden oft nicht ernst genommen.

    In der Sexualaufklärung bei Frauen geht es  hauptsächlich darum, nicht schwanger zu werden. Lust oder Orgasmus werden anders als bei Männern weniger miteinbezogen.
    In der Sexualaufklärung bei Frauen geht es hauptsächlich darum, nicht schwanger zu werden. Lust oder Orgasmus werden anders als bei Männern weniger miteinbezogen. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Viele veraltete Zuschreibungen beeinflussen den Blick auf den weiblichen Körper bis heute. Dazu gehört auch die Reduzierung auf die Gebärfähigkeit, denn bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Rollenzuschreibung klar: Individuelle Bedürfnisse zurückzustellen, Kinder bekommen und sich um die Familie kümmern. Weibliche Lust oder sexuelle Bedürfnisse spielten keine Rolle. 

    „Heute geht es in der Sexualaufklärung von Frauen hauptsächlich darum, nicht schwanger zu werden. Lust oder Orgasmus werden anders als bei Männern weniger mit einbezogen“, sagt Schmid-Altringer. Und auch Stadler spricht von einem ungleichen Fokus in Sachen Reproduktion, Verhütungsmittel und Kinderwunsch. „Da sind alle Augen auf die Frauen gerichtet, sämtliche Studien werden mit Frauen erhoben, aber zum Kinderwunsch gehören immer zwei.“ Aus ihrer Sicht sollten Männer im Sinne einer geschlechtersensiblen Medizin auch da stärker mit einbezogen werden. 

    Rund neun Millionen Frauen in Deutschland stecken gerade in der Menopause

    Der Fokus auf die Reproduktion beeinflusst Frauen auch später, denn die Wechseljahre sind besonders stigmatisiert. Während graubärtige Männer mit Falten im Gesicht als Halbgötter, Propheten und geniale Denker durch die Kulturgeschichte geisterten, blieben ältere Frauen nahezu unsichtbar. Als unfruchtbare Wesen hatten sie für die patriarchale Gesellschaft ausgedient, das Objekt der Begierde hatte seinen Reiz verloren. 

    Auch diese Prägung sitzt tief. „Frauen leiden unter dem Älterwerden stärker als Männer, denn sie werden mehr nach ihrem Äußeren beurteilt“, sagt Stadler. Auch die Vorstellung, wie ein normaler Körper altert, sei ein Tabu. Frauen bekämen medizinisch immer mehr Reparaturen verordnet, dabei gehe es darum, die Lebensfreude zu stärken und Bedürfnisse neu auszuloten. Spätestens mit der Menopause.

    Rund neun Millionen Frauen in Deutschland stecken gerade mittendrin, jede Frau macht sie irgendwann durch. Meistens mit Anfang 50, wobei die Perimenopause oft schon mit Anfang 40 beginnt. Perimeno... noch nie gehört? „Die wenigsten wissen von dieser Übergangsphase zwischen Menstruation und Menopause oder welche Symptome da normal sind“, sagt Stadler. „Selbst meine Frauenärztin hatte mir nicht geglaubt, als ich ihr von meinen einsetzenden Hitzewallungen erzählte. Das war ernüchternd, aber diese Phase ist einfach immer noch nicht gut erforscht.“ 

    Über die Wechseljahre lässt sich hingegen einiges sagen. Die Eierstöcke bilden weniger Progesteron und Östrogen, die Regelblutung bleibt aus. Das Auf und Ab der Hormone macht sich bemerkbar: Roter Kopf und nass geschwitztes Shirt sind noch die harmloseren Symptome. Etwa jede Dritte Frau leidet an Hitzewallungen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Herzstolpern. In der Menopause sinkt der Kalorienverbrauch, Frauen nehmen eher zu. Auch die Schilddrüse kann durch die Hormonumstellung reagieren.

    Ziel der Gendermedizin: Die Versorgung für alle Menschen zu verbessern

    Aber nach 450 Zeilen über Frauen darf man jetzt schon mal fragen: Wo stehen eigentlich die Männer? Strukturell ganz oben, denn der Medizinbetrieb ist immer noch männerdominierter. Zwar sind 70 Prozent der Studierenden weiblich, das spiegelt sich aber nicht in den Führungspositionen wider. Nur etwa zwölf Prozent der Klinikleitungen und Professuren sind mit Frauen besetzt. 

    Abgesehen davon steht es um die Männer in der Medizin allerdings nicht viel besser als um die Frauen. Eindeutiger Beweis: Männer sterben im Schnitt fünf Jahre früher. Müsste ihre Gesundheit nicht vielmehr im Fokus stehen? „Genau darum geht es in der geschlechtersensiblen Medizin, sie bezieht alle Geschlechter mit ein und ist langfristig für alle von Vorteil“, sagt Stadler. Auch bei Männern gebe es blinde Flecken und massive Datenlücken. Beispiel Depression: Da sind Männer stark unterversorgt, ihre Symptome sind weniger bekannt. Die Suizidraten sind höher und die psychischen Probleme nehmen zu, denn auch auf ihnen lastet ein enormer Druck. Auch bei Osteoporose, einer schleichenden Knochenerkrankung, werden Männer schlechter versorgt als Frauen. Genauso ist die allgemeine Vorsorge für Männer eher ein Tabu.

    „Die personalisierte Medizin ist in aller Munde, aber wir haben noch riesige Datenlücken“, sagt Stadler. Um alle Menschen individualisiert und damit besser behandeln zu können, müssen sämtliche Diversitätsmerkmale wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, sozialer Status, Sorgearbeit, Beeinträchtigungen aller Art erfasst und mitgedacht werden. In der Prävention und Forschung genauso wie in der Behandlung und Nachsorge. Auch Schmid-Altringer sagt: „Das Ping Pong der Geschlechter muss aufhören, wir brauchen eine Medizin für alle Menschen.“

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