Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Nervenschmerzen oder Gelenkschmerzen. Brennend, stechend, bohrend oder reißend. Und manchmal verschwinden sie einfach nicht mehr. Etwa zwölf Millionen Menschen in Deutschland, rund 17 Prozent der Bevölkerung, sind von lang anhaltenden, chronischen Schmerzen betroffen. Ihre Leidensgeschichte dauert durchschnittlich sieben Jahre, sagt die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. Mehr als jeder fünfte Betroffene ist länger als 20 Jahre von Dauerschmerzen geplagt - und von zunehmenden Einschränkungen im Alltag. Wie die Gefahr gemindert werden kann, dass akute Schmerzen chronisch werden, wird die Neurologin Professor Dr. Claudia Sommer bei einem Patientenforum an der Uniklinik Würzburg berichten. Die 61-Jährige ist Leitende Oberärztin und Schmerzforscherin an der Neurologischen Klinik - und seit einem Jahr Präsidentin der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.
Frau Professor Sommer, was ist ein akuter Schmerz? Was ist ein chronischer Schmerz? Und was ist der Unterschied?
Prof. Claudia Sommer: Akuter Schmerz warnt vor Gewebeverletzung oder zeigt diese an. Er ist also ein wichtiger, nützlicher Überlebensfaktor. Wenn man keinen Schmerz spürt – und es gibt genetisch bedingte Erkrankungen wo das der Fall ist - verletzt man sich schwerwiegend und ist ohne fremde Hilfe kaum lebensfähig. Chronischer Schmerz ist grob in zwei Kategorien aufzuteilen: Es gibt chronischen Schmerz mit bestimmter Ursache, wie zum Beispiel Arthrose eines Gelenks. Dieser Schmerz kann, trotz langer vorheriger Dauer, durch zum Verschwinden gebracht werden, wenn die Ursache behoben wird. Zum Beispiel durch Hüft-Endoprothese bei Hüftgelenksarthrose.
Und chronischer Schmerz der zweiten Kategorie?
Sommer: Das sind Schmerzen, die von der ursprünglichen Ursache losgelöst sind oder für die nie eine Ursache identifiziert wurde. Diese Schmerzen werden nach der neuen internationalen Klassifikation der Krankheiten auch als "primäre Schmerzen" bezeichnet. Hier ist der psychosoziale Kontext besonders wichtig und meist ist eine interdisziplinäre Therapie mit verschiedenen Verfahren erforderlich.
Wann werden Schmerzen chronisch? Nach welcher Zeit und wieso?
Sommer: Das ist sehr unterschiedlich und hängt vom bio-psycho-sozialen Kontext ab. Die meisten Definitionen sprechen ab einer Dauer von drei Monaten von chronischen Schmerzen. Eine große Rolle spielen die Erwartungshaltung, die Verarbeitungsmechanismen und Begleiterkrankungen, wie zum Beispiel eine Depression. Viel hierüber hat man bei Rückenschmerzen gelernt, die bei manchen Menschen nur kurzfristig auftreten und bei anderen chronisch werden. Man versucht, Risikofaktoren zu identifizieren, um Menschen mit dem Risiko für chronische Schmerzen frühzeitig zu erkennen und um Therapiestrategien zu entwickeln, die diese „Chronifizierung“ verhindern.
Ist zuerst immer der akute Schmerz? Könnte man also rechtzeitig reagieren, damit ein Schmerz nicht chronisch wird?
Sommer: Meist gibt es einen akuten Schmerz, aber manche Patienten erzählen auch, dass es ganz allmählich anfing, die Schmerzen immer mehr wurden und sich auf dem Körper ausbreiten. Ein ganz typisches Beispiel ist der akute Schmerz nach Operationen, der postoperative Schmerz. Hier sind schon gute Programme wie der „Akutschmerzdienst“ aufgebaut, um den akuten Schmerz zu lindern und Spätfolgen zu vermeiden. Trotzdem bergen bestimmte Operationen immer noch das Risiko, dass sich danach chronische Schmerzen entwickeln. Auch hier gibt es aktuell Forschungsprogramme, die das Ziel haben, die Ursachen zu finden und vor allem die Strategien zu entwickeln, wie man die chronischen Schmerzen nach Operationen verhindern kann.
Welche Organe, Teile unseres Körpers sind am anfälligsten für chronischen Schmerz – und wieso?
Sommer: Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß nicht, ob es wissenschaftlich untermauerte Zahlen dazu gibt. Aus meiner Erfahrung ist das Gesicht sehr anfällig. Schmerzen nach einer Entzündung, einem Eingriff oder einer Operation im Gesichtsbereich können sehr hartnäckig sein. Auch von Operationen im Leistenbereich weiß man, dass schwer behandelbare Schmerzen folgen können, zum Glück nur in seltenen Fällen. Auch Operationen an der Brust, vor allem Brustamputationen, führen in einem bestimmten Prozentsatz zu chronischen Schmerzen. Früher war die Eröffnung des Brustkorbs, die Thorakotomie, berüchtigt für nachfolgende chronische Schmerzen. Dies hat sich durch minimal invasive Operationsverfahren, durch die „Schlüssellochchirurgie“, und die verbesserte Schmerztherapie bei der Operation deutlich gebessert.
Warum „lernt“ unser Körper, unser Gehirn nicht, mit einem Schmerz umzugehen? Oder anders gesagt: Wieso kann man sich nicht an den Schmerz „gewöhnen“?
Sommer: Das ist eine interessante Frage. Offenbar ist aus der Evolution bedingt die Schutzwirkung von Schmerzen so wichtig, dass der Körper nicht einfach davon abschalten kann. Den Schmerz weniger wahrzunehmen, kann ein Ziel eines multimodalen Therapieprogramms sein. Ähnliches gilt zum Beispiel für Tinnitus, der oft auch nicht verschwindet, aber in den Hintergrund gedrängt werden kann, so dass er das Leben nicht wesentlich beeinträchtigt.

Kann passieren, dass die Ursache des Schmerzes behandelt und therapiert ist. Und der Schmerz trotzdem bleibt?
Sommer: In solchen Fällen muss man sich fragen, ob das was operiert wurde, wirklich die Ursache des Schmerzes war. Beispiele sind Operationen am Rücken, oder wiederholte Operationen im Gesichtsbereich, bei Schmerzen, die schon chronisch sind. Eine wichtige Aufgabe von Schmerztherapeuten und Fachärzten ist, unnötige invasive Maßnahmen zu verhindern.
Wie individuell sind Schmerzen?
Sommer: Schmerzen sind sehr individuell! Daher ist es auch so schwierig, die Schmerzstärke und die Beeinträchtigung zu messen. Wir haben nach wie vor kein objektives Maß für Schmerzen.
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – warum ertragen manche den Schmerz sehr tapfer. Oder sind andere einfach „wehleidig“?
Sommer: Diese Frage wurde schon vielfältig untersucht, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Zum Beispiel wird immer wieder untersucht, ob Männer oder Frauen mehr schmerzempfindlich sind. Dann gibt es auch genetische Faktoren. Und die Rolle der Erziehung und von Rollenmodellen ist auch nicht zu unterschätzen.
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Was sind moderne Therapieformen? Wie behandelt man Schmerz heute am besten?
Sommer: Es gibt für die verschiedenen Schmerzformen gut etablierte Therapiestrategien. Die meisten davon sind in Leitlinien niedergelegt, so dass man sie nachlesen kann. So gibt es sehr spezifische und wirksame Medikamente für bestimmte Kopfschmerzformen. Auch gibt es etablierte Strategien für die Behandlung von postoperativen Schmerzen oder für die Behandlung von Nervenschmerzen. Chronische Schmerzen mit bio-psycho-sozialen Faktoren werden am besten interdisziplinär und multimodal behandelt, also mit verschiedenen Verfahren.
Wenn sich alles nur noch um den Schmerz dreht – wie lässt sich der Teufelskreis durchbrechen?
Sommer: Das ist ein Fall für die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie. Ein wichtiges Element ist hier, vernachlässigte Lebensinhalte wieder aufzunehmen, Genuss wieder zu lernen, und soziale Kontakte wieder aufzunehmen. Und Bewegung ist wichtig. Der Mangel an Bewegung durch Angst vor Schmerzen kann den Teufelskreis verstärken. Bewegung muss mit adäquaten Methoden gefördert werden.
Gibt es Schmerzen, die ein Leben lang begleiten – und nicht therapierbar sind?
Sommer: Ein Leben lang begleiten – ja, das kann sein. Nicht therapierbar ist ein harter Begriff. Ich denke, es gibt für jede Schmerzart eine Therapiemöglichkeit. Auch wenn die Schmerzen nicht verschwinden, können sie doch gelindert werden, oder die Häufigkeit ihres Auftreten kann reduziert werden, oder die Lebensqualität kann durch andere Maßnahmen verbessert werden.
(Wann) geht es ohne Medikamente?
Sommer: Es gibt Schmerzen, die mit Medikamenten behandelt werden sollten. Und es gibt andere Schmerzformen, bei denen nicht-medikamentöse Maßnahmen die bessere Wahl sind. Chronischer Rückenschmerz und das Fibromyalgiesyndrom sind Beispiele für letzteres. Aber ein Therapieplan muss individuell besprochen werden.
Welche Rolle spielen Opiate?
Sommer: Opiate sind bei den meisten akuten Schmerzformen die wirksamste Substanzgruppe. Sie spielen eine wichtige Rolle bei akuten postoperativen Schmerzen und bei der Tumorschmerztherapie. Die Verwendung von Opiaten bei anderen chronischen Schmerzen wird sehr kritisch gesehen. Hier sind Faktoren wie Wirkungsverlust, Nebenwirkungen, Abhängigkeit und Missbrauch zu beachten. Die deutsche Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS) wird gerade in aktualisierter Form veröffentlicht.
Hilft Akupunktur?
Sommer: Ob Akupunktur hilft, oder nicht, ist eine sehr individuelle Frage. In wissenschaftlichen und klinischen Studien sind viele erstaunliche Wirkmechanismen nachgewiesen worden. Akupunktur als Teil eines vielschichtigen Konzepts ist sicherlich bei chronischen Schmerzen wertvoll.
Was war für Sie zuletzt die wichtigste neue Erkenntnis aus der Schmerzforschung?
Sommer: In unserer eigenen Forschung war dies die Erkenntnis, dass wir bei einer oft als „psychogen“ eingeordneten Erkrankung wir dem Fibromyalgiesyndrom organische, also am Nervensystem messbare Befunde nachweisen konnten. Aus der Forschung anderer Arbeitsgruppen könnte ich viele Dinge berichten, die mich in den letzten Jahren fasziniert und inspiriert haben. Vielleicht ein Beispiel: Es ist gelungen, aus Hautzellen von Patienten mit genetisch bedingten Schmerzerkrankungen Nervenzellen entstehen zu lassen. An diesen Nervenzellen kann man im Labor untersuchen, wie der Schmerz entsteht und mit welchen Medikamenten man ihn am besten behandeln kann.
Welche Schmerzmittel sollte man in seiner Hausapotheke haben?
Sommer: Hier könnt man Paracetamol, Ibuprofen und Diclofenac nennen. Allerdings sollte man als Patientin oder Patient wissen, dass man keine Gegenanzeigen dagegen hat, und dass diese nicht mit anderen eingenommenen Medikamenten interagieren. Auch ist die Antwort unterschiedlich, je nachdem für welche Schmerzen man ein Mittel vorhalten möchte: für Menstruationsschmerzen oder für Migräne oder für eine akute Phase bei bekannten chronischen Gelenkschmerzen? Besser ist es, dies mit dem Hausarzt abzusprechen.
Patientenforum: Am Donnerstag, 19. März, veranstalten die Unabhängige Vereinigung aktiver Schmerzpatienten in Deutschland (UVSD SchmerzLOS e.V.) und das Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin Würzburg einen kostenlosen Informationsabend. Das Patientenforum findet von 18 bis 20 Uhr im Hörsaal des Zentrums für Operative Medizin (ZOM) an der Uniklinik Würzburg statt. Es ist gedacht für alle, die sich für aktuelle Entwicklungen und Chancen in der Schmerzmedizin interessieren. Referentinnen sind Prof. Dr. Heike Rittner, Leiterin der Schmerztagesklinik, Prof. Dr. Claudia Sommer von der Neurologischen Klinik und Heike Norda, Vorsitzende von UVSD SchmerzLOS e.V. Eine Anmeldung ist nicht nötig, nach den Vorträgen gibt es Gelegenheit zur Diskussion.