Herr Suter, in Ihrem neuen „Allmen“-Roman, in dem ein gestohlener Picasso eine wichtige Rolle spielt, heißt es „Kunst ist eine Marke“. Wie ist Ihr Verhältnis zur Kunstwelt?
MARTIN SUTER: Kunst ist natürlich für mich mehr als eine Marke. Was wären wir ohne die Kunst? Ich habe immer in Künstlerkreisen verkehrt, auch schon in meiner Zeit als Werber. Denn viele Werber sind verhinderte Künstler. Als ich meine erste Frau Vivian kennenlernte, da war sie erst 17 und schon in der Malfachklasse. Inzwischen ist sie eine berühmte Künstlerin. Und meine Tochter will auch Künstlerin werden, weshalb ich bemüht bin, ihr die richtige Umgebung zu schaffen.
Sind Sie selbst ein Künstler?
SUTER: Ich habe mich nie als Künstler betrachtet, auch wenn ich manchmal als solcher bezeichnet wurde. Aber ich habe es immer als Beruf oder Kunsthandwerk im besten Sinn gesehen.
Können Sie einen Autor nennen, auf den diese Bezeichnung aus Ihrer Sicht zutrifft?
SUTER: Für mich war E.T.A. Hoffmann immer ein großer Künstler. „Die Elixiere des Teufels“ haben mich schon in sehr jungen Jahren verzaubert. Da ist alles drin: Poesie, viel Dramaturgie und Technik. In der Literatur wird ja Handwerk oft belächelt oder als unseriös bezeichnet – im Gegensatz zur Musik, wo das unglaublich wichtig ist. Da gibt es eben Takte und strenge Regeln. Natürlich könnte man auch auf Free Jazz und atonale Musik verweisen, aber die haben mir immer schon unglaublich fern gelegen.
Haben Sie selbst etwas von E.T.A. Hoffmann gelernt?
SUTER: Ja, zum Beispiel, dass man die Leser in Sicherheit wiegen soll und dann etwas geschehen lässt, was sie erschreckt. Oder man schürt die Erwartung auf etwas, das dann nicht eintritt. Das habe ich auch von Hitchcock gelernt, und das ist eben etwas rein Technisches.
Hinzu kommen noch die Inhalte. In Ihrem Roman „Melody“, mit dem Sie jetzt auf Lesereise gehen, und im neuen „Allmen“ spielen Frauen zentrale Rollen. Setzen Sie künftig mehr auf weibliche Protagonisten?
SUTER: Es ist in vielen meiner Bücher so, dass Frauen die eigentlichen Heldinnen sind. Bei der „Der Teufel von Mailand“ habe ich sogar Vorwürfe bekommen, dass ich mich erdreiste, eine Frau als Hauptfigur zu nehmen. Angeblich könne ich doch nicht wissen, wie es in einer Frau aussieht. Dabei ist es nicht gerade eine literarische Sensation, wenn Männer Frauen als Hauptfigur nehmen. Da gibt es größere Beispiele als mich.
Sie wissen also, wie es in Frauen aussieht?
SUTER: Ich habe mit Frauen gelebt, auch jetzt lebe ich mit meiner Tochter. Deshalb weiß ich schon einiges, selbst wenn Frauen mir ein großes Rätsel bleiben, das ich nie lösen werde. Ich weiß nicht, ob das je einem Mann gelungen ist. Aber umgekehrt dürfte es sich genauso verhalten. Ich wurde mal in einem Interview gefragt, mit welcher Person ich für einen Tag tauschen möchte. Und ich habe sofort gesagt: mit meiner Frau. Da hätten sich unglaubliche Fragen gelöst. Vielleicht sollte ich mal ein Buch über einen Mann schreiben, der für einen Tag in den Körper seiner Frau schlüpft.
Das klingt nach einem Komödienstoff.
SUTER: Ich weiß nicht, ob ich das als Komödie behandeln darf, denn dann würde ich mich aller Klischees bedienen. Wobei ich gerade tatsächlich an einer Komödie schreibe, an der ich sehr viel Freude habe. Sie hat den Arbeitstitel „Was ist lustig?“
Sie haben im Mai letzten Jahres Ihre Frau verloren. Ist es Ihnen da einfach so möglich, Komödien zu verfassen?
SUTER: Das ist es, weil ich das trennen kann. Vielleicht hat es damit auch zu tun, dass ich das Schreiben als meinen Beruf betrachte, auf den meine Gemütslage keinen Einfluss haben sollte. Mein Grundsatz ist: ‚Kein Tag ohne Zeile‘. Wenn ich als Schreiner in der gleichen Situation wäre, würde ich ja auch keine Hobelblockade haben. Komödien kann man nicht nur dann schreiben, wenn man gut gelaunt ist. Ich möchte noch hinzufügen: Ich muss diese beiden Aspekte nicht aktiv trennen. Die trennen sich automatisch voneinander.
Sie haben in einem Interview erwähnt, dass Sie kurz nach dem Trauerfall mit Ihrer Tochter nach Rom gingen. Sind Kunst und Kultur, wie man sie in der ‚Ewigen Stadt‘ erlebt, das beste Mittel, um mit unserer Endlichkeit fertig zu werden?
SUTER: Vielleicht. Die Kunst ist auch etwas Fiktives, und ich werde immer mehr zum Verfechter der Theorie, dass die Fiktion wirklicher ist als die Wirklichkeit.

Doch die Realität präsentiert sich derzeit mit viel Gewalt und Brutalität, der man nicht so einfach aus dem Weg gehen kann. Inwieweit macht Ihnen das Sorgen?
SUTER: Pessimismus ist nicht so meine Stärke. Aber ich gebe zu, dass ich schon beunruhigt bin. Allein deshalb, weil ich eine junge Tochter habe. Ich muss nur an die Klimaprobleme oder an das für meine Generation Undenkbare denken, nämlich, dass jetzt auch in Europa mit Krieg zu rechnen ist. Seinerzeit war ich noch für die GSoA, die Gruppe für die Schweiz ohne Armee, aktiv. Und nun stellt sich heraus, dass vielleicht doch eine Armee nötig ist, selbst für ein neutrales Land. In der Rekrutenschule gab es noch den geflügelten Witz ‚Wenn der Russe kommt‘, und plötzlich ist das ein ernstes Thema.
Sie haben also trotz Ihrer persönlichen Belastungen die politischen Ereignisse der letzten Monate verfolgt?
SUTER: Sehr intensiv sogar. Als Schriftsteller bin ich nicht sehr politisch, aber als Mensch durchaus. Schon in den Monaten, bevor Trump gewählt wurde, habe ich vier amerikanische Zeitungen wie die New York Times abonniert. Jetzt sehe ich mir regelmäßig die Beiträge des Lincoln Project an, einer Organisation von ehemaligen oder aktuellen Mitgliedern der Republikanischen Partei. Die Situation macht mir Angst. Aus meiner Sicht war es keine kluge Entscheidung von Biden, noch mal anzutreten, denn das gibt diesem Ekel Trump eine Chance.
Was ist denn Ihre grundlegende Erkenntnis angesichts der ganzen Herausforderungen unserer Existenz?
SUTER: Je länger ich lebe, desto mehr habe ich gemerkt: 'All You Need Is Love' ist eine ziemlich kluge Zusammenfassung des Lebens.
Die Liebe kann aber auch dazu führen, dass man nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Mochten Sie das?
SUTER: Doch. In der Hinsicht wollte ich keine Ruhe und Klarheit, jedenfalls nicht in jungen Jahren. Ich habe diesen berauschten Zustand genossen.
Haben Sie ein erfülltes Leben, weil Sie wahre Liebe erfahren haben?
SUTER: Das kann ich schon so behaupten. Ich habe schon lange nicht mehr das Gefühl, etwas im Leben verpasst zu haben. Wenn wir nicht Kinder adoptiert hätten, dann könnte ich sagen, dass ich etwas verpasst habe. Und zugegeben, als wir noch keine Kinder hatten, haben sie mir auch nicht gefehlt. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, wo der Standardsatz lautete ‚Ich kann in diese Welt keine Kinder setzen.‘ Es war eher meine Frau, die das wollte, und ich war sehr froh, dass sie das so gesehen hat. Denn als wir dann unsere Kinder adoptierten, habe ich eine neue Dimension des Gefühls kennengelernt. Das war eine ganz andere Form von Verliebtheit, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Wobei ich nicht derjenige sein möchte, der zu anderen sagt ‚Macht Kinder, ansonsten verpasst ihr was.‘ Denn Kinder gibt es genug, es gibt nur zu wenig Eltern.
Wie erleben Sie den Prozess des Älterwerdens?
SUTER: Ich bin erstaunt, dass das so schnell gegangen ist. Im Inneren bin ich immer noch dieser junge, die Alten beobachtende Mensch, der sich bei anderen denkt „Mein Gott, ist der alt.“ Und dann begreife ich: Der ist ja zehn Jahre jünger als ich. Das ist sehr lustig. Ich finde es auch faszinierend, wie sehr die Musik von früher noch präsent ist. Ich habe früher Benny Goodman gehört, und meine Tochter hört zunehmend die gleiche Musik wie ich damals. Oder im Autoradio läuft Musik aus den 70er und 80ern. Das ist schon verrückt.
Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen jetzt und vor Jahrzehnten?
SUTER: Sie meinen nicht vom Aussehen? (lächelt). In meiner Jugend war meine Einstellung, dass ich nichts verpassen will. Wenn ich in einer Disco war, habe ich gedacht, vielleicht läuft es in der zweiten besser. Wenn ich mit einer Frau geflirtet habe, fand ich eine andere ein paar Tische weiter viel heißer. Diese Mentalität habe ich zum Glück sehr schnell abgelegt. Meine Haltung ist: Man kann im Leben nichts verpassen. Denn ansonsten verpasst man viel zu viel. Und diese Haltung gibt mir große Ruhe.
Zur Person
Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, hat bis Anfang 1990 hauptberuflich als Werbetexter gearbeitet und startete dann sein zweite Karriere als Schriftsteller. Mit "Small World" (1997) wurde er einem großen Publikum bekannt. Es folgten "Die dunkle Seite des Mondes" und "Ein perfekter Freund". Seit 2011 arbeitet Suter auch an der Allmen-Krimiserie. Nun erschien mit "Allmen und Herr Weynfeldt" der siebte Band der Reihe.