Sie haben Pilgerströme ausgelöst: Als Christo und Jeanne-Claude im Sommer 1995 den Berliner Reichstag verhüllten, bestaunten fünf Millionen Menschen die imposante Installation. Wo auch immer das Künstlerpaar seine Stoffbahnen ausrollte, sorgte es für weltweites Aufsehen. Nun will Lindau mit den prominenten Namen auftrumpfen. Nach Andy Warhol im vergangenen Jahr (70.000 Besucher) widmet die Stadt ihre aktuelle Sommerausstellung Christo (1935–2020) und Jeanne-Claude (1935–2009). Spektakulär verhüllte Gebäude dürfen die Gäste am Bodensee freilich nicht erwarten. Und doch gelingt es der Schau mit 70 faszinierenden Werken, den Visionen und der Schaffenskraft eines Paars nachzuspüren, dessen Antrieb es war, Freude und Schönheit in die Welt zu bringen: "We only create joy and beauty" (Christo).
Die Erinnerung an Christo und Jeanne-Claude bezaubert in Lindau
Eine wandgroße Fotografie des verhüllten Reichstags empfängt die Gäste in den Ausstellungsräumen. Die Wand daneben ist bespannt mit einem silbern schimmernden Stoff. 100.000 Quadratmeter dieses aluminiumbedampften Polypropylengewebes verwandelten einst den Deutschen Reichstag. Sie wurden nach der Kunstaktion laut dem Lindauer Kulturamtsleiter Alexander Warmbrunn in der Autoindustrie wiederverwertet – und ein kleiner Rest darf nun in Lindau ertastet werden.
Eines wird in dieser Ausstellung deutlich: Zwar fand jede Arbeit von Christo und Jeanne-Claude ihren Höhepunkt in der Umsetzung, Bestandteil ihrer Kunst war aber ebenso die jahre-, oft jahrzehntelange Vorbereitung. Mit Zeichenstift und Papier, Kreide, Folie, Faden, Draht und Pappe materialisierten Christo und Jeanne-Claude die monumentalen Bilder aus ihren kreativen Köpfen in kleinerem Format. Mit meisterlichen Zeichnungen und detailreichen Collagen von frappierender Raumtiefe tasteten sie sich an die Metamorphose der von ihnen erwählten Szenerien heran – seien es Seen, Inseln oder Schluchten, Gebäude, Straßenräume oder Parks. Nicht jede Vision wurde Wirklichkeit. Doch die in Lindau gezeigten komplexen Entwürfe, die häufig mit Konstruktionsstudien und Lageplänen ergänzt sind, lassen erahnen, welche Kraft auch dem Unvollendeten innewohnt. Welch beglückendes Flattern und Flirren etwa hätte die Pariser Champs-Elysées verzaubert, wenn Christo und Jeanne-Claude ihre Bäume hätten in Stoffe hüllen dürfen!
Christo und Jeanne-Claude wurden am gleichen Tag geboren
Objekte, Skizzen und Collagen dienten dem Künstlerpaar allerdings nicht allein der Entwicklung der Projekte. Sie finanzierten mit deren Verkauf auch die Realisierung ihrer Ideen. Schließlich wollten die beiden nicht von Sponsoren abhängig sein. Kunst brauche Freiheit, waren sie überzeugt. Kontroverse öffentliche Diskussionen und langwierige Genehmigungsverfahren schmälerten den Gestaltungswillen von Christo und Jeanne-Claude nicht. Im Gegenteil: All die Hürden, die es zu nehmen galt, verstanden sie als Teil des künstlerischen Prozesses. Beim verhüllten Reichstag, den die Menschen dann als kraftvolles Symbol für das wiedervereinigte Deutschland verstanden, dauerte dieser Prozess immerhin 25 Jahre.
Christo und Jeanne-Claude wurden am gleichen Tag geboren, dem 13. Juni 1935. Er in Gabrowo in Bulgarien, sie in Casablanca, damals Französisch-Marokko. Kennengelernt haben sie sich in Paris, wohin Christo 1956 geflohen war. 1964 zogen sie nach New York, dort lebten und arbeiteten sie bis zu ihrem Tod. Die Kunst und die Liebe verband diese beiden ungewöhnlichen Menschen, nur gemeinsam wollten sie als Künstler verstanden werden.
Wolfgang Volz fotografierte die Werke von Christo und Jeanne-Claude
Ein Weggefährte trägt dazu bei, dass die temporären Werke von Christo und Jeanne-Claude weit über die zeitlich begrenzte Realisierung hinaus Wirkung entfalten: Wolfgang Volz fotografiert seit 1972 ihre Installationen exklusiv. In der gemeinsam mit der Christo and Jeanne-Claude Foundation entstandenen Lindauer Ausstellung vermitteln Volz’ Bilder die Strahlkraft verschiedener Arbeiten, etwa „Valley Curtain“ in Colorado (1979-72), „The Gates“ im Central Parc von New York City (2005) und „The Floating Pies“ auf dem oberitalienischen Iseosee (2016). Besonders die Luftaufnahmen der „Surrounded Islands“ in Miami (1983) lassen erahnen, welchen Reichtum Christo und Jeanne-Claude in ihrer Welt entdeckt und mit welcher Magie sie ihn für alle erfahrbar gemacht haben.
Fotograf Volz ist in der Ausstellung auch durch ein Video vertreten. In einem Interview schildert er die Vorgehensweise von Christo und Jeanne-Claude, erzählt von Entstehungsprozessen, Widrigkeiten und Momenten großer Freude.
Info: Ausstellung „Christo und Jeanne Claude – ein Leben für die Kunst“ im Kunstmuseum Lindau, von 13. April bis 13. Oktober, täglich von 10 bis 18 Uhr.