Jan Wagner, Lyriker und Büchnerpreisträger, der mit seinem Gedichtband "Regentonnenvariationen" 2015 sensationell vorstieß in die Bestsellerliste, Jan Wagner gerät immer mal wieder in den Verdacht, mit seiner Lyrik, die gerne das kaum Beachtete, scheinbar Nebensächliche, das Gemüse im Garten zum Thema macht, gegenwartsfernen Kitsch zu liefern. Als Reaktion auf solche Missgunst mag man deshalb das Motto lesen, das Wagner seinem neuen Lyrikband "Steine & Erden" voranstellt, einen Satz von Francis Ponge, in dem der französische Dichter, frei übersetzt, bekennt: Auch wenn mich das Sprechen vom Erdenen zum Kleindichter, zum Erdarbeiter macht, ich bin es gerne – kenne ich doch nichts Größeres als dieses Sujet.
Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, bleibt sich auch in "Steine & Erden" treu. Am unspektakulären Objekt, ob nun organischer Natur oder nicht, entzündet sich ihm die poetische Imagination. Das kann, gleich im ersten Gedicht, ein Autoreifen sein, vervielfacht und getürmt zu einer "gummiakropolis", einem "heiligtum des banalen", "dunkler als sämtliche rembrandts zusammen". Von solchen Assoziationen, unerwartet, aber nicht abseitig, wird der Leser in den Bann der Verse gezogen. Die Sprachbilder, die der konsequent klein schreibende Wagner an das von ihm Erfasste heftet, sind exquisit wie das von der Flamingo-Kolonie, die "schläft / auf einem bein, als hielte ein jongleur / gleich hunderte von tellern in der luft". Und manchmal schimmert sogar feiner Humor durch wie bei den Kühen, die "wie senatoren um die hügelkuppen" sich lagern, als wollten sie hier in der irischen Landschaft das antike, gelangweilt-dekadente Rom evozieren.
Jan Wagner verarbeitet Eindrücke von Reisen
, und gerade die Botanik mit ihren menschgemachten Bezeichnungen ist für den Dichter oft selbst schon Dichtung, Begriffe, denen er schon mal eine ganze Strophe widmet: "beinbrech, scharfer mauerpfeffer, / schwertlilie, spiemelde, dreizack" und noch etliches mehr, da muss nicht noch eigens lyrisch nachgewürzt werden. Doch keineswegs erschöpft sich in diesem Themenbündel Wagners neue Gedichtsammlung.
Eindrücke von Reisen, nach Skandinavien, Indien und Fernost und selbst Australien finden lyrischen Niederschlag. Aus Melbourne etwa dergestalt ("die ibisse des kranykus"), dass ein Kranich über eine Straßenkreuzung stolziert und beim Ich des Gedichts eine ironisch-melancholische Erinnerung auslöst an einen ehemaligen Mitschüler und dessen "antwort auf die frage / nach schillers Werk, bevor er sich an schande / und schimpf vorbei ... die schneise bis zurück zum sitzplatz brannte". So komisch die erinnerte Situation, so herb das brennende Schamgefühl, das da mittransportiert wird.

Wagners Gedichte machen es dem Leser leicht, schon bei der Erstlektüre findet man in sie hinein. Um dann beim zweiten, dritten, wiederholten Lesen festzustellen, dass sich in tieferen Schichten weitere Bedeutungsräume auftun, dass da noch anderes, als die Wortgestalten an der Oberfläche besagen, mitgemeint sein könnte – eine Eigenschaft, die nicht zum Geringsten den Reiz dieser Lyrik ausmacht.
Meister im Ausklügeln des klanglich Ähnlichen
Beispielsweise ist da das Gedicht "die trüffelkriege", das von zwei Knollensuchern erzählt und wie sie sich gegenseitig die Suche schwermachen. Aber sind da wirklich nur "die männer, die in hütten / in eichenwäldern hausen" gemeint? Schimmert da nicht ein Subtext hindurch, der aufs Künstlertum zielt, sind "die trüffelkriege" nicht vielleicht (auch) ein poetologisches Gedicht? Ihr Außenstehende, heißt es hier, "ahnt nichts von der kunst / die man nur langsam lernt, wenn überhaupt; / und was wir ernten / (selbst wenn die muse borstig ist und grunzt) // ruht zwischen porzellan und goldkaraffen". Ob Trüffelknolle, ob lyrisches Gespinst, dass da etwas kunstvoll in der Schwebe gehalten wird, macht dieses Gedicht zum Faszinosum.
Was sich so leichtfüßig liest, ist formal oft streng gefügt. Gediegene Formen wie das Sonett, das Ghasel oder die Elegie finden sich neben freieren Versgebilden. Den strengen Reim freilich meidet der Dichter überwiegend, nicht aber den Gleichklang am Ende zweier Verse. Im Ausklügeln klanglicher Ähnlichkeiten ist Wagner ein Meister, das Gerüst, das er dabei erschafft – und in das sich durchaus auch mal ein Paar reiner Reime verirrt –, festigt auf subtile Weise Strophe und Gesamtgedicht.
Wagner flechtet subtil das Politische ein
Subtil ist auch das Politische, gesellschaftlich Kritische in diese Sammlung von 66 Gedichten eingeflochten, auch dies ein Beleg gegen die Ansicht, Wagners Lyrik sei irrelevante l'art pour l'art. Das Gedicht "berühmte tische" macht sich Gedanken darüber, was denn an den Tischen der Könige und Regenten geschah und geschieht – mit einer so wunderbar doppelbödigen Fügung wie jener über einen Tisch, "an dem es endlich glückte, / den langersehnten frieden auszuhandeln, // der stets an einer andern ecke wackelt / trotz all der ausgefeilten symmetrie". Wie wahr, wie wahr, denkt man sich im Angesicht des Weltgeschehens.
Das letzte, längste Gedicht des Bandes nimmt auch seinen Titel auf, "steine & erden". Ein virtuoses Finale, das "steine & erden" als Kehrreim verwendet am Ende aller sieben Strophen, durch die sich ein einziger Satz hindurchzieht, stattliche 56 Zeilen lang. Im Zentrum des Gedankenstroms ein Schild, das dem lyrischen Ich beim Vorüberrauschen auf der Autobahn seitab in den Blick sticht, "steine & erden", eine Werbeaufschrift offenbar. Aus der freilich ein Gedicht entsteht, das sich in Wagners verhaltener Andeutungskunst als Memento lesen lässt, als Hinweis darauf, dass wir in unserem dahinjagenden Leben auf der Schnellbahn unserer Existenz letztlich doch nur eines sind, "was immer wir waren, was immer wir werden", nämlich – siehe Titel. Wahrlich Lyrik, diese neue von Jan Wagner, die uns etwas zu sagen hat.
Jan Wagner: Steine & Erden. Hanser Berlin, 112 Seiten, 22 Euro.