Armer Hamlet! Was musste er im Lauf von vier Jahrhunderten an Deutungen erdulden. Auch am Meininger Theater seit 1989. Der eine Regisseur hielt es klassisch-historisch-kostümiert, der andere verlegte die Handlung in den Palast der Republik. Und jedesmal fiel angesichts der Katastrophenlage im Staate am Ende der Kritikersatz, hier würde der Gesellschaft wieder einmal gnadenlos der Spiegel vorgehalten.
Jetzt inszenierte Andreas Kriegenburg (60), einer der renommiertesten Theaterregisseure im Lande, erstmals am Staatstheater und interpretiert Hamlet – nach der Übersetzung seines Theaterkollegen Frank-Patrick Steckel. Keine Spur von Schloss, kein nächtliches Helsingör. Dafür eine vom Regisseur entworfene versiffte Probebühne, herumstehende Scheinwerfer, ein rostiger Ventilator in der Wand, der die Zeit unerbittlich weiterzutreiben scheint.

Ein Theaterensemble bereitet sich offenbar auf eine Hamlet-Durchlaufprobe vor, trägt beliebige Kleidung, von historisch bis alltäglich (Kostüme: Andrea Schraad). Da tritt überraschend Horatio vor, Hamlets vertrautester Freund seit Kindertagen, und hält einen Monolog, ins Dunkel gerichtet. Man spitzt die Ohren. Horatio, der im Stück so wenig zu sagen hat, beklagt seine ewige Rolle: "Ich KANN nicht mehr. Nicht noch ein weiteres Mal kann ich ertragen, dem lieben Freund, bei jedem Schritt und Schritt und Schritt zu folgen hin zu seinem bitteren Tod."
Was ist das für ein vergiftetes Vater-Sohn-Verhältnis?
Aber was wäre die Alternative, würde der Visionär den Freund von seinen Taten abhalten? Die Geschichte würde aus der Welt verschwinden. Unmöglich. Also los! Die Probe beginnt. Viermal wird Horatio das Spiel unterbrechen, viermal schreibt ihm Kriegenburg Monologe auf den Leib, die der Nebenfigur eine neue Bedeutung geben. Schließlich ist Horatio einziger Überlebender des schauerlichen Geschehens. Wer, wenn nicht er, kann davon künden, was faul ist im Staate und vor allem in der privatesten aller gesellschaftlichen Keimzellen, der Familie?

Damit rückt eine brisante Beziehung ins Zentrum, die häufig von der Dekadenz der Hofgesellschaft überlagert wird: Was macht es mit einem empfindsamen jungen Mann, wenn ihm sein toter Vater noch als Geist Rachegedanken ins Herz pflanzt? Was ist das für ein vergiftetes Vater-Sohn-Verhältnis?
Auch dazu wird Horatio dem Publikum, vor allem den Vätern, noch einiges zu sagen haben. Leo Goldberg spielt sich in dieser Rolle die Seele aus dem Leib, singt eine Weise von Purcell, haut in die Tasten eines Klaviers, schreit und schweigt und mahnt – und kann, was geschieht, doch nicht verhindern. Hamlet rotiert hilflos in seinem Gedankengefängnis. Yannick Fischer gibt ihm ein so glaubhaft zerfasertes Ego, dass am Ende nur noch Fanatismus waltet.
Kriegenburgs Menschenkenntnis prägt das Spiel aller im Ensemble
Man merkt, wie Kriegenburgs Menschenkenntnis das Spiel aller im Ensemble prägt, ihre präzise Arbeit an Sprache, Tonart, Gestus, Musikalität und Bewegung: Vivian Frey (König), Anja Lenßen (Königin), Pauline Gloger (Ophelia), Matthis Heinrich (Laertes), Gunnar Blume (Polonius), Larissa Aimée Breidbach und Jan Wenglarz (Guildenstern und Rosencrantz) und Jörg Pose/Matthias Herold (unter anderem als Hamlets Vater).
Kriegenburgs ganz spezielle Slapstick-Einlagen verschaffen dem Publikum Zeit zum Durchatmen. Und dennoch: so viele Worte, so rasend schnell gesprochen - manchmal zu schnell, zu flüchtig, als dass ihnen selbst aufmerksam Zuhörende noch folgen könnten. Aber so entfliehen eben Worte in Panik und Verzweiflung den Mündern – als wollten sie das Unaufhaltsame durch Reden verzögern. Horatio kann ein Lied davon singen. Und es ist so befreiend, dass er es bei Kriegenburg endlich darf.
Nächste Vorstellungen: 12. , 22. Oktober, 1., 4. November, 17. Dezember. Kartentelefon (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de
