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DETTELBACH: Charlottes Schamgebiete

DETTELBACH

Charlottes Schamgebiete

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    Hatten offenbar viel Spaß: Charlotte Roche (links) und Carla Juri bei ihrem Besuch im Cineworld im Mainfrankenpark, wo sie „Feuchtgebiete“ vorstellten.
    Hatten offenbar viel Spaß: Charlotte Roche (links) und Carla Juri bei ihrem Besuch im Cineworld im Mainfrankenpark, wo sie „Feuchtgebiete“ vorstellten. Foto: Foto: Norbert Schwarzott

    Schaut man Charlotte Roche an, denkt man: Ach, wie nett! Sie ist zierlich, hübsch; braune, lange Haare, dunkle Augen, und sie strahlt die ganze Zeit. Spätestens seitdem sie 2008 den Roman „Feuchtgebiete“ veröffentlich hat, wissen Menschen und Medien aber: So nett ist sie nicht. Roche, 35, sagt ständig „Muschi“. In ihrem Buch schreibt sie über blutende Risse am Anus und über Popel aus getrocknetem Sperma. Wer so was schreibt, kann nicht nett sein. Oder? Im Cineworld im Mainfrankenpark Dettelbach stellte sie mit Hauptdarstellerin Carla Juri die Verfilmung von „Feuchtgebiete“ vor – und sich Fragen von Journalisten und Zuschauern. Notizen vom Besuch Roches, die Sätze sagte wie diese:

    „Sagt jemand, dass der Film und das Buch eklig sind, könnte man darauf zurück sagen: Es ist erst mal ganz natürlich. Und es ist viel klüger, natürliche Sachen am Körper so zu akzeptieren oder womöglich sogar zu mögen, als das alles abzulehnen. Wenn man das macht, hat man den eignen Körper als Feind. Das ist nicht so gesund.“

    Der erste Satz des Films kommt aus dem Off: „Solange ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden.“ Dann sieht man, wie sich die von Carla Juri gespielte Helen Memel auf einer versifften öffentlichen Toilette Zinksalbe auf die Schwellungen am „Arsch“ schmiert, den Finger reinsteckt, mit ihrer „Muschi“ die Klobrille abwischt und alle Bakterien mitnimmt.

    „Solche Bücher schreibt man nur, wenn man total verklemmt ist. Das ist ein großes Missverständnis, dass man denkt: ,Diese alte Sau, der ist ja gar nichts peinlich.‘ Es gibt ja gar keinen Grund, so ein Buch zu schreiben, außer man kämpft mit sehr viel Scham und Peinlichkeiten und will die eigentlich los werden. Ich finde es sogar einfacher, über so was zu schreiben, als mit meiner besten Freundin drüber zu reden.“

    Auf der Leinwand beginnt eine Kamerafahrt durch die Bakterienlandschaft eines getrockneten Urinflecks. Und damit eine Irrfahrt durch das Leben des Scheidungskindes Helen, 18. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen klebrigen, schmierigen Bogen – voller Menstruationsblut, Ausfluss, Urin, Masturbation mit Gurken, Karotten und Avocadokernen – um ihre Intimhygiene zu machen.

    „Helen fragt ja auch: ,Wie lange dauert es, bis meine Leute nicht mehr hinter mir stehen?‘ Sie provoziert bewusst, testet ihre Familie. Und der Leser oder Zuschauer fragt sich: ,Oh Gott, was ist los mit der, finde ich das jetzt gut, was die macht? Und wie einsam ist die? Und warum macht die das?‘ Das wirft ganz viele Fragen auf.“

    Eine junge Frau, die sich die frische Hämorrhoiden-OP-Wunde aufreißt, damit ihre geschiedenen Eltern häufiger am Krankenbett aufeinandertreffen – eigentlich eine traurige Geschichte. Roche ist selbst Scheidungskind. Die Frage, wie viel sie von dem Erzählten selbst erlebt hat, wird oft gestellt. Auch im Kinosaal beim Gespräch mit dem Publikum.

    „Wenn ich ein Buch über Depressionen lese und die Autorin dann sagt: ,Nee, ich hab' aber gar keine Depression, lalala, das hab' ich bei meinem Nachbarn beobachtet', dann denk' ich: Ach komm, f . . . dich, dann les' ich das auch nicht. Wenn mich jetzt natürlich jemand nach meinen sexuellen Vorlieben fragt, dann mag ich da nix zu sagen, das ist mir dann doch zu extrem. Jeder kann das Buch lesen und sich überlegen, was ich davon schon gemacht habe oder gerne im hohen Alter ausprobieren möchte. Aber zum Beispiel die ganze Scheidungskind-Dramatik, auch gewisse Drogen-Erlebnisse, das ist alles echt, da steh' ich auch zu. Das macht das Buch wertvoller.“

    Über 2,5 Millionen Mal hat sich „Feuchtgebiete“ bisher verkauft, es stand monatelang an der Spitze diverser Bestsellerlisten.

    „Der größte Erfolg meines Lebens, mit Sicherheit. Und da wird auch kein größerer Erfolg kommen. Ich glaube, ich würde mein Leben ruinieren, wenn ich mir sagen würde: ,Komm Charlotte, du stehst heute auf, und jetzt wirst du dich selber toppen! Nein, ich glaube, es ist viel besser, die Einstellung zu haben ,Du hattest mit 30 den größten Erfolg deines Lebens.‘ Und damit komm' ich gut klar. Und ich steh' trotzdem morgens auf.“

    Der Ruf als „Fäkalien-Tante“ klebt an Roche wie im Film das getrocknete Scheidensekret an Helens Unterhose. Ein Image, das sie wieder loswerden will?

    „Ich sehe das gar nicht als mieses Image: Wenn ich mit Zuschauern oder Lesern spreche, fühl' ich mich von den meisten voll verstanden. Da denke ich mir: Nee, die freuen sich darüber, die picken sich Sachen raus, die die berühren und vielleicht ein bisschen ihre Denke ändern. Und das macht mich eher stolz. Und ich finde es auch okay, wenn gekichert wird. Denn das ist ja auch 'ne Art, damit umzugehen. Es gibt keine falsche Art, mit dem Film umzugehen.“

    Roche ist Mutter einer elfjährigen Tochter.

    „Das ist nicht jugendfrei, was ich mache. Das ist im Prinzip so, wie wenn 'ne Hure 'ne total gute Mutter ist. Die erzählt dem Kind ja aber nichts von ihrer Arbeit. Genau so ist das bei uns auch. Meine Arbeit spielt keine Rolle zu Hause.“

    Charlotte Roche bezeichnete sich häufiger als Feministin, wurde heftig kritisiert dafür, vor allem, nachdem sie in ihrem zweiten Buch, „Schoßgebete“, geschildert hat, wie die Hauptdarstellerin versucht, es ihrem Mann immer recht zu machen – inklusive gemeinsamer Bordellgänge. Alice Schwarzer meldete sich zu Wort, nannte den zweiten Roman eine „verruchte Heimatschnulze“. Es kam zur öffentlichen Auseinandersetzung der beiden.

    „Wenn ich mir manchmal aus Spaß vorstelle, ein Mann hätte ,Feuchtgebiete‘ und ,Schoßgebete‘ geschrieben, glaube ich ganz klar, dass der nie gefragt werden würde: ,Was sagt dein Kind dazu?‘ Ich werde total oft gefragt. Und es ist leider immer noch so, wenn eine Frau so was schreibt, explizite Literatur sozusagen, dann machen sich alle Sorgen um die Familie, weil die Frau quasi Schande über den Mann, das Kind und die Familie bringt. Als Frau bist du entweder das Kind deiner Eltern, die Ehefrau deines Mannes oder die Mutter deiner Kinder. Und dann darf man nicht frei die Kunst machen, die man machen will.“

    Trotzdem brennt den Kinogängern im Mainfrankenpark die Frage unter den Nägeln, was die Familie von Charlotte Roche zu Buch und Film sagt.

    „Bei mir war das schon früher beim Moderieren bei Viva so, dass ich meinen Eltern nicht sagen konnte: Hey, ich bin so stolz auf das, was ich mache. Guckt doch mal rein. Weil da hab' ich ja schon immer total versaute Sachen gemacht. Und ich dachte dann: ,Ich will nicht, dass meine Eltern das sehen.‘ Bei mir verläuft halt so eine natürliche Schamgrenze. Ich will halt nicht, dass mein Vater ein Buch liest und sich dann seine Tochter beim Masturbieren vorstellt.“

    Also doch Schamgebiete! Eine Tochter, die ihre Eltern nicht unnötig schocken und den Leuten einen Denkanstoß liefern will, sich selbst mehr zu lieben – das ist dann doch irgendwie nett.

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