Es war eine der letzten Amtshandlungen von Diözesanmusikdirektor Gregor Frede vor seinem Ruhestand: Er nahm das Kirchenlied "Den Aufbruch wagen!" in das Chorbuch der Diözese für 2022 auf. Das Chorbuch ist eine jährliche Gabe an die Sängerinnen und Sänger und Chöre im Bistum, eine Art Vorschlagsliste mit aktueller Kirchenmusik.
Die Aufnahme an sich ist nichts Ungewöhnliches, ungewöhnlich ist das Lied selbst. Denn "Den Aufbruch wagen!" ist ein kirchenkritisches Kirchenlied. Es fordert, "Mauern der Macht" und "Fesseln der Vergangenheit" aufzusprengen, und die Kirche von "engen Zwängen" zu befreien.
Der Text wendet sich gegen die derzeit beliebte "Insolvenz-Rhetorik" in Sachen Kirche
Der Text stammt vom Würzburger Musiker und Theologen Jakob Johannes Koch, der interessanterweise Kulturreferent der Deutschen Bischofskonferenz ist. Ein kirchenkritisches Kirchenlied von einem Mitarbeiter der Amtskirche? "Der Liedtext ist ein privates Projekt von mir, er gehört nicht zu meinen Aufgaben als Kulturreferent", sagt Koch. Im Konflikt zu seinem Arbeitgeber sieht er sich damit dennoch nicht: "Ich weiß, dass eine deutliche Mehrheit der deutschen Bischöfe den Aufbruch befürwortet."
Strophe vier zitiere bewusst aus der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (Freude und Hoffnung) von 1965 des zweiten Vatikanischen Konzils, so der Autor. Darin geht es um Trösten und Heilen. "Es ist eine Selbstverpflichtung der Kirche, Freude und Hoffnung zu stärken und aktiv gegen alles vorzugehen, was Trauer und Angst bereitet."

Er habe mit dem Text ein Zeichen setzen wollen gegen die derzeit so beliebte "Insolvenz-Rhetorik" in Sachen Kirche. "Natürlich werden wir mit einem Liedchen nicht von einem Tag auf den anderen die Kirche verändern, aber wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen, die uns Mut machen. Wir gehen diesen Weg, auch wenn beim Apostolischen Stuhl vieles anders gesehen wird." Er sei zuversichtlich, "sonst würde ich auch nicht für die katholische Kirche arbeiten".
Viele meinen, die Kirche müsse sich wieder dem wirklichen Leben der Menschen nähern
Bischof Franz Jung, so Jakob Johannes Koch, gehöre ganz klar zu den Protagonisten des Synodalen Wegs. "Papst Franziskus hat für dieses Jahr zur ersten Generalversammlung der Weltsynode eingeladen und die Bistümer vorher gebeten, ihre brennenden Themen einzureichen. Er verwendet dabei selbst die Bezeichnung ,Synodaler Weg'." Die Kirche müsse sich wieder dem wirklichen Leben der Menschen nähern. Sich um das kümmern, was sie bewegt. "Da hat sie einiges nachzuholen."

Gregor Frede hat das Lied bewusst ins Chorbuch aufgenommen, "weil die Kirche sicherlich einen Aufbruch braucht", sagt er. Und vom Sprengen von Fesseln sei ja auch schon in den Psalmen die Rede. Es habe ein paar kritische Stimmen gegeben, denen der Titel zu dick aufgetragen sei, viele andere aber seien begeistert. "Den Leuten da draußen, die sich für christliche Grundwerte einsetzen, die selbst zu schaffen haben mit Arbeit und Familie und dennoch zum Beispiel Geflüchtete aufnehmen, diesen Menschen spricht der Text aus der Seele."
Die Kirche sitze ja inzwischen nicht mehr "auf goldenen Eiern", umso dringender müsse sie auf die Menschen zugehen. "Wir müssen aufrichtig und ehrlich miteinander umgehen." Frede glaubt, dass das Lied auch musikalisch ankommen wird: "Die Chöre werden das alle vorbereiten, die Melodie wird ganz schnell ins Ohr gehen."

Komponiert hat die Melodie der Würzburger Musiker und FH-Professor für Journalismus Kilian Moritz. "Ich wollte für diesen tollen und anspruchsvollen Text keine platte, triviale Melodie. Dennoch soll sie sangbar sein. Insbesondere der Refrain soll im Ohr bleiben." Er habe deshalb eine Melodie mit einem ungewöhnlichen Melodiebogen über fünf Takte und Tonmaterial gewählt, das sich am seltener verwendeten Harmonisch-Moll orientiere.
Die Kirche sei derzeit durch schweres Fahrwasser unterwegs, so Moritz. "Verursacht durch individuelles Fehlverhalten einzelner Personen, aber auch durch ganz grundlegende strukturelle Probleme. Nun kann man als Christ den Kopf in den Sand stecken oder sich komplett von der Kirche resigniert abwenden. Das ist nicht meine Sichtweise."
Den Chorsatz steuert der Verleger und Arrangeur Bernd Stallmann bei: "Als ich dieses Lied in der Vertonung von Kilian Moritz das erste Mal hörte, war es für mich wie eine Befreiung. Ja, das ist der gemeinsame Weg für uns Christen: Lasst uns darüber diskutieren und Änderungen herbeiführen, die zeitgemäß sind und uns Christen einander nahebringen."