Er gab dem Pferd die Sporen und galoppierte los – mitten hinein in den Bamberger Dom. Denn er war jung und er kannte sich mit christlichen Gepflogenheiten nicht aus. Später würde der junge Ungar als Stephan I. König seines Landes werden. 1083 wurde er heiliggesprochen.
Der Ritt ist nur Legende. Wird aber gerne hergenommen, wenn's um die Frage geht, wer der Bamberger Reiter sei – jene Sandstein-Figur, die auf einer Konsole am ersten Pfeiler des Ostchors im Bamberger Dom steht. Der Dom-Besucher muss zu ihm aufblicken – und der Reiter scheint es zu wissen: Selbstbewusst sitzt er auf seinem Pferd, ein Mann von Welt. Als wolle er die Eleganz seiner Kleidung, ja seiner ganzen Erscheinung, unterstreichen, hält er mit der rechten Hand den Riemen des Obergewandes, beinahe schon kokett. Er ist eine der berühmtesten Skulpturen des Mittelalters. Und er ist noch immer von Geheimnissen umwittert, Legende hin, König Stephan her.
„Wir wissen nicht sicher, wen die Figur darstellen soll“, so Dr. Stefan Kummer. Hypothesen über die Identität des Reiters gebe es mehrere. Mal mehr, mal weniger sinnvoll, wie der Professor für Kunstgeschichte an der Universität Würzburg erklärt. So soll der Bamberger Reiter einer der Heiligen Drei Könige sein, doch: „Das kann man vergessen“, urteilt Stefan Kummer. Weitere Kandidaten sind Kaiser Konstantin, Stauferkönig Konrad III. und eben Stephan I.
„Beweisbar ist das alles nicht“, sagt Kummer. Klar sei aber so viel: Es müsse sich um einen König handeln – denn der Sandstein-Reiter trägt eine Krone. Der Standort in einer Kirche lege zudem einen „sakralen Bezug“ nahe. Argumente für den Stephan I., den Heiligen?
„Es existiert in Bamberg eine Lokaltradition, die Stephan betrifft“, erklärt Professor Kummer. Den Ungarnkönig (969 bis 1038) und Bamberg verbindet mehr als nur der legendäre Ritt. Er wurde offenbar schon früh im Bamberger Dom verehrt. Stephan war mit Kaiser Heinrich II. verschwägert, der im Bamberger Dom begraben liegt. Die lokale Tradition gebe der Stephans-These immerhin ein „gewisses Gewicht“, glaubt Kummer. Sicher sei aber nichts. Es fehle ein kennzeichnendes Symbol, das die Identität klärt. „Wenn man wüsste, wen der Bamberger Reiter darstellt, könnte man vielleicht den ganzen Dom neu deuten“, so Stefan Kummer über den wissenschaftlichen Sinn der Identitätssuche.
Unklarheit öffnet Raum für Spekulationen. Ideologen und Populisten nutzen Kenntnislücken, um die eigene Saat zu verbreiten. Beinahe zwangsläufig wurde so der Bamberger Reiter von deutschnationaler Propaganda als „arisches“ Symbol vereinnahmt. Kummer: „Zum Beispiel wurde behauptet, das Standbild habe ursprünglich vor dem Dom gestanden und nach Osten geblickt“ – quasi in Richtung der zu erobernden Gebiete. Blühender Unsinn: Der Bamberger Reiter stand seit seiner Entstehung – zwischen 1225 und 1237 – auf der Konsole an der ersten Säule des Ostchors. Das ist sicher, das zeigen Untersuchungen an den Steinen.
Sicher ist auch, dass der Reiter kunsthistorisch etwas Besonderes ist: Reiterstandbilder waren damals nicht üblich. „Es gab sie zuletzt in der Spätantike“, so Kunsthistoriker Kummer. Dass die Figur in einer Kirche steht, macht sie vollends einzigartig. Ähnliche Reiter aus jener Epoche gibt es zwar – doch die stehen im Freien: etwa in Mailand am Palazzo della Ragione oder in Magdeburg auf dem Gerichtsplatz.
Auch „das Momentane“ im Ausdruck der Figur sei außergewöhnlich für die Entstehungszeit, erklärt Stefan Kummer. Der Bildhauer habe sich damit vom in der Romanik üblichen nüchternen Stil entfernt: „Der Bamberger Reiter strahlt Leben aus.“ Zudem war die Statik des vollplastisch gearbeiteten Bildes eine knifflige Sache.
Das Mittelalter gibt der Forschung häufig Rätsel auf. Wie die Identität des Reiters, liegt auch die Identität seines Schöpfers im Dunkel der Geschichte. Für den Bamberger Dom hat der Meister auch die als Elisabeth und Maria bekannten Figuren geschaffen. Spuren führen nach Frankreich. Laut Professor Stefan Kummer hat der Schöpfer des Bamberger Reiters sein Handwerk wahrscheinlich im französischen Reims gelernt.
Wer den Bamberger Dom besucht – der Vorgängerbau, der 1185 abbrannte, wurde am 6. Mai vor 1000 Jahren geweiht – sieht das steinerne Bild nicht so, wie es die Menschen des Mittelalters sahen. Denn ursprünglich waren Reiter, Ross und Konsole bemalt: das Pferd weiß mit braunen Flecken, Kleid und Umhang des Reiters waren rot, die Stiefel braun, Krone, Sporen und Gürtel vergoldet. Der Mann trug dunkles Haar. Die Farbe hob die Figur deutlicher aus ihrer Umgebung hervor.
Wer im Mittelalter zu dem Reiter aufblickte, sah einen Mann, der sich noch selbstbewusster präsentierte als heute.
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