Völlig überraschend tauchten sie mit nur wenigen Booten und einer relativ kleinen Schar von Kriegern auf, stürmten an die Küste, drangen in die Buchten ein, fuhren die Flüsse hinauf. Sie überwanden später sogar den Atlantik und ließen sich im heutigen Kanada nieder. Ihre blutrünstigen Angriffe führten sie über 250 Jahre von der Ostsee bis ins Mittelmeer. Jedes Kloster, das sie fanden, wurde seiner Schätze beraubt, keine Festung konnte ihnen widerstehen, sogar Paris und Rom wurden erobert, der Aachener Dom wurde nur wenige Jahre nach dem Tod von Karl dem Großen ihr Pferdestall.
Wie sie kamen, verschwanden sie plötzlich wieder – auch aus der Geschichte: Sie wurden vollständig in ihren eroberten Gebieten integriert, das Welttheater spielte ohne sie weiter. Dieser Einbruch in die gerade beginnende Geschichte des Abendlandes und die ungeheuere Gefahr, die von den Wikingern ausging, begann und endete jeweils in England und lässt sich genau festlegen: Die Wikingerzeit dauerte von 793 mit der Zerstörung des Klosters Lindisfarne in der nördlichsten Grafschaft Englands bis 1066 mit der Einnahme Englands durch Wilhelm den Eroberer in der Schlacht von Hastings.
Die „Wikingerkultur“ erstreckte sich auf Skandinavien, Island, Grönland, Ost-Kanada, Irland, die britischen Inseln, die Normandie, Sizilien, Russland und den Vorderen Orient. Furcht und Schrecken waren aber im ganzen Abendland verbreitet, wie durch die Beschreibung eines Beutezugs deutlich wird: „Auf allen Wegen lagen Tote: Priester und Laien, Frauen, Kinder und Säuglinge. Verzweiflung erfüllte die Franken. Es sah so aus, als würden die christlichen Länder untergehen!“
Großartige Schiffsbaukunst
Die Beutezüge und Expansionen wurden mit Hochseeseglern, immer ein Langschiff mit Rahsegel, unternommen, die auch gerudert werden konnten. Die Schiffsbaukunst der Wikinger wurde von niemandem in der Welt erreicht. Die größeren Schiffstypen hießen Skeid und Drache, dessen Steven mit dem Kopf des Fabeltiers geschmückt war. Bis zu tausend Mann sollen die größten Drachenschiffe gefasst haben. Auch die Bauleistung der Werften muss enorm gewesen sein, wenn man bedenkt, dass bei der Zerstörung von Hamburg im Jahre 845 eine Wikingerflotte von nicht weniger als 600 „Seedrachen“ aufgetaucht sein soll.
Die Wikinger wählten als Hafenorte weit in das Land hineinreichende Wiken (Buchten). So könnte „Wikinger“ einen Mann bezeichnen, „der aus der Bucht kommt“. Das Wort „Wik“ hat auch die Bedeutung eines Handelsplatzes. „Wikinger“ ist damit eine mehrdeutige Bezeichnung für den „Nordmann“ in seiner doppelten Tätigkeit als Krieger und Händler. Die von den Wikingern um 800 gegründeten Städte im Norden Europas entwickelten sich schnell zu Zentren eines glänzend organisierten Fernhandels – vor allem für Osteuropa. Für das Frankenreich traten die Wikinger zunächst als „Dänen“ in Erscheinung. Der von Karl dem Großen unbesiegte Dänenkönig Gudröd wurde 810 von einem Gefolgsmann ermordet. Unter Gudröds Verwandten brachen Streitigkeiten um die Erbfolge aus. Wer unterlag, ging zur See und suchte in fremden Ländern Macht und Reichtum. Zunächst setzten sich die „Seekönige“ 819/820 an der Loire-Mündung auf der Insel Noirmoutier fest. Sie war in den folgenden Jahrzehnten Ausgangspunkt für die Kriegszüge der Wikinger in das sich zersplitternde Frankenreich. So lief im Mai 841 eine Wikingerflotte in die Seine ein. In knapp zwei Wochen brannten sie Rouen und mehrere Klöster nieder.
Die Franken hatten keine Zeit, ein Gegenheer aufzustellen. In gleicher Weise statteten die Wikinger danach der Loire und der Garonne einen Besuch ab. Anschließend steuerten sie in Richtung iberische Halbinsel, auf der sie unterschiedslos christliche und islamische Städte heimsuchten. Der Widerstand der Mauren war aber offensichtlich so groß, dass sich die Wikinger im September 841 wieder nach Noirmoutier zurückzogen – nicht ohne Lissabon auf dem Rückweg ein zweites Mal zu plündern.
Mit 40 000 durchs Frankenreich
Ähnlich fiel 845 der dänische König Harik in die Elbe ein und plünderte Hamburg. Ein anderer „Seekönig“ fuhr im gleichen Jahr die Seine hinauf und suchte Paris heim. Einige der Wikinger wandten sich sogar Italien und Griechenland zu. 886 zog Wikingerkönig Sigfrid mit 40 000 Mann durchs Frankenreich. Nach verheerenden Beutezügen durch Köln, Xanten, Bonn, Koblenz, Bingen, Worms, Trier, Aachen gelang es erst Kaiser Arnulf 891 in einer mörderischen Schlacht bei Löwen in Brabant, das Wikingerheer vernichtend zu schlagen. Eine noch grausamere „Dänenzeit“ erlebte England.
Vielleicht war Europa schon völlig leer geplündert – um 900 herum jedenfalls geschah so etwas wie ein Wunder: Viele der Wikingerheere lösten sich auf, aus Seefahrern wurden Landbauern. Eine Gruppe unter Rollo, der den letzten Wikingerüberfall auf Frankreich organisierte, ließ sich in der „Normandie“ nieder und gründete ein Herzogtum, das das Frankenreich gegen weitere einfallende Normannen schützte. Die jugendliche Tochter des Frankenkönigs, Gisela, wurde Rollos Frau.
Die Gründung des Normannenreichs in Unteritalien und auf Sizilien vollzog sich erst ab dem 11. Jahrhundert – in einer gewandelten Welt: Die Normannen hatten bereits den christlichen Glauben angenommen und waren sesshaft geworden. Dieses Normannenreich blühte auf: Künste und Wissenschaft wurden ungemein gefördert; es herrschte Glaubensfreiheit für die Normannen, Sarazenen und „Römer“!
Die Verbindung von Christentum und Wikingernatur hat sicher auch den Kreuzzugsgedanken mithervorgebracht; die Hochachtung des Wikingers gegenüber der eigenen Frau verschmolz wohl mit dem aristokratischen Benehmen des Franken zum Rittertum – geprägt äußerlich durch den Burgenbau, den die Normannen meisterlich beherrschten. Das Wunder war die einmalige und vollständige Integration der Wikinger mit allen anderen Europäern, die so an Dynamik, Einfallsreichtum, Ritterlichkeit, Weltoffenheit gewonnen.
Im Blickpunkt
Die Wikinger in Speyer Das Historische Museum der Pfalz in Speyer zeigt die Ausstellungen „Mit den Wikingern auf großer Fahrt“ (bis 26. April) und „Die Wikinger“ (bis 12. Juli), jeweils dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Mehr Infos im Internet: www.wikinger.speyer.de