Die Ausstellung ist jugendfrei“, versichert Wolf Eiermann, Leiter des Museums Georg Schäfer in Schweinfurt. Ein Hinweis, der sich vor allem aus der Perspektive des Kunsthistorikers erklärt, denn „Lockruf der Décadence – deutsche Malerei und Boheme 1840-1920“ zeigt zwar viel nackte Haut, von jugendgefährdender geschweige denn pornografischer Verwerflichkeit ist sie allerdings meilenweit entfernt.
Was Eiermann zu seiner Entwarnung veranlasst, ist vielmehr die Tatsache, dass die nackte Haut hier unter anderen, neuen Voraussetzungen stattfindet. Die Nacktheit ist hier nicht mehr mythologisch motiviert und erhebend idealisiert, sondern durchaus realistisch und sogar erotisch gemeint.
Eiermann, seit einem Jahr im Amt, hat sich für seine soeben eröffnete Antrittsausstellung nichts weniger vorgenommen, als eine Strömung im Deutschland des 19. Jahrhunderts zu identifizieren und zu benennen, die so bislang nicht in den Kunstbüchern beschrieben ist: die Décadence – nicht zu verwechseln mit dem deutschen Begriff der Dekadenz, den wiederum die Kritiker dieser Strömung prägten.
Es geht um die Abkehr der Kunst vom bürgerlich staatlichen und kirchlichen Tugend- und Schönheitsdiktat, wie es in Europa seit der französischen Revolution gilt. Im viktorianischen England wird es sich als ausgesprochen zählebig erweisen, in Deutschland findet es mit dem Biedermeier seine eher beschauliche Ausprägung.
Baudelaires „Blumen des Bösen“ bilden eine Art Startschuss
Die Abkehr iniziiert ein Dichter: Charles Baudelaire publiziert 1857 den Gedichtzyklus „Les Fleurs du Mal“, die Blumen des Bösen – ein Werk voll morbiden Überdrusses und endzeitlicher Schärfe. Er gibt damit eine Art Startschuss, den auch die bildende Kunst vernimmt. Seither gelten drei Forderungen: Bilder müssen weder idealisierend, noch erbaulich, noch schön sein.
Unter dem Begriff Fin de Siecle sind die Folgen in der österreichischen Kunst allgegenwärtig, in Deutschland findet die Décadence verteilt auf mehrere Strömungen statt, vom Realismus über Symbolismus, Historismus bis hin zu den Impressionisten – die Zuordnung ist eine inhaltliche, keine stilistische.
Wolf Eiermanns Motto: „Hier endet die bequeme Kunst.“ Die Arbeiten thematisieren – mehr oder weniger eindeutig – das Abseitige, das Anstößige, das Widersprüchliche. Dirnen, Kurtisanen, Hexen und sonstige Fabelwesen, Künstler, Müßiggänger, aber auch Menschen in privatestem Umfeld, nachlässig bis gar nicht bekleidet. Individuen eben, deren Darstellung keinen höheren Sinn haben muss – l'art pour l'art also. Motive aus der Antike gibt es weiterhin, abgebildet werden nun aber nicht mehr die Helden, sondern eher die Antihelden, Nero oder Salome zum Beispiel.

Selbst Homosexualität, damals als „Unzucht“ verschrien und strafbar, klingt an. 158 Arbeiten etwa von Beardsley, Böcklin, Corinth, Feuerbach, Kaulbach, Klimt, Klinger, Makart, Putz, Schadow, Schiele oder Slevogt sind zu sehen – Gemälde wie Grafik –, 38 davon Leihgaben, meist aus Privatbesitz. Wolf Eiermann hat die Sammlung unter dem Décadence-Aspekt neu durchgesehen und zeigt auch einige Gemälde aus der Dauerpräsentation in neuem Kontext.
Paradebeispiel ist Hans Makarts Triptychon „Die Pest in Florenz“ von 1868, ein düsteres, überladenes Massengelage mit dramatischer Lichtregie, das sonst neben Spitzweg, Caspar David Friedrich, Waldmüller, Corinth, Slevogt oder Liebermann wohl eher als Randerscheinung der Sammlung wahrgenommen wird.
Makart hatte zusammen mit Piloty und Kaulbach eine Reise nach Paris unternommen und war derjenige, der das Gedankengut der Décadence und damit „die Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) unter den Malerkollegen anstieß.

Dass die Strömung bis heute im deutschen kunsthistorischen Bewusstsein kaum eine Rolle spielt, liegt – wieder einmal – am Säuberungswahn der Nationalsozialisten, die sich praktischerweise auf die freundliche Vorarbeit des Arztes, Schriftstellers und Politikers Max Nordau (ironischerweise ein führender Zionist) stützen konnten, der 1892 unter dem Titel „Entartung“ den Verfall in Gesellschaft und Kunst angegriffen hatte.
Das Spannende der Schweinfurter Ausstellung ist genau dieser eher kultur- denn kunsthistorische Aspekt: Bilder unterschiedlichster Machart, vereint unter einer immer wieder überraschend schlüssigen Klammer. Eiermann inszeniert sie boudoirartig hinter schweren roten Samtvorhängen mit einem Hauch von Halbwelt.
Die Welten von Geist und Körper treffen aufeinander
Wo bei Makarts Endzeitorgie der Verfall der guten Sitten offensichtlich ist, muss man bei Anselm Feuerbachs „Gastmahl des Plato“ von 1869 schon ein wenig genauer hinschauen. Es wirkt wie eine dieser vertrauten Szenen, in denen griechische Philosophen vergeistigt vor sich hindebattieren. Wäre da nicht der beinahe nackte Jüngling, Alkibiades, der sturzbetrunken von links ins Bild torkelt. „Es stoßen hier die Welten von Geist und Körper aufeinander“, sagt Eiermann.
Das Monumentalgemälde ist als formatgetreue Reproduktion zu sehen, das Original war ebenso wenig ausleihbar wie Carl Theodor von Pilotys „Thusnelda im Triumphzug des Germanicus“ oder Thomas Coutures „La Décadence des Romains“. Letztere ist im Treppenhaus über dem Eingang zur Grafikabteilung effektvoll platziert. Im Original sind dazu die vorbereitenden Skizzen in Öl zu sehen.
Die antike Thematik als Parodie bildungsbürgerlicher Anständigkeit
Bacchantische Schlusspunkte setzen Leo Putz mit der „Bajadere“, die mit einem Bären kopuliert, und der entfesselte Lovis Corinth mit seinem „Bacchantenpaar“ und mit „Perseus und Andromeda“, einer unverhohlenen Parodie auf wohlanständige Bildungsbürgerlichkeit. Der Held gesichtslos in Ritterrüstung, die Gerettete kokett, eher füllig und alles andere als schutzbedürftig. Eiermann formuliert es so: „Die Tochter der Kommerzienrätin bekommt eine Pelerine gereicht.“
Lockruf der Décadence. Deutsche Malerei und Boheme 1840-1920. Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, bis 8. Januar. Geöffnet Di.-So. 10-17, Do. 10-21 Uhr.