Dies war nun das dritte Jahr, das - zumindest teilweise - von der Pandemie gezeichnet war. Diesmal allerdings nicht mehr so sehr von Auflagen, dafür aber von vielen Absagen und der vielfachen Klage über das Ausbleiben des Publikums. Und nicht zuletzt vom verheerenden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, von Inflation und Preissteigerungen. Es wird für manche Veranstalter wohl noch eine Weile dauern, bis wieder vorpandemische Auslastungen erreicht werden. Wenn überhaupt. Hier der Jahresrückblick unserer Autorinnen und Autoren.
Mathias Wiedemann

Höhepunkt der Jahres
In diesem Jahr schwer zu sagen – es gab zwar viele sehr schöne Kulturereignisse in der Region, aber mein persönlicher Höhepunkt war "Der Ring des Nibelungen" an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Regie: Dmitri Tcherniakov. Dirigent: Christian Thielemann. Spitzenklasse in jeder Hinsicht. Und vermutlich eine bittere Lektion für Bayreuth. Übrigens bis 17. Februar noch verfügbar in der arte-Mediathek.
Kulturbild des Jahres

Entdeckung des Jahres
Der junge Würzburger Bassbariton Jakob Ewert. Studiert an der Würzburger Musikhochschule und hat nicht erst in der Titelrolle der "Figaro"-Produktion der Opernschule bleibenden Eindruck hinterlassen. Dass er als Finalist beim Bundeswettbewerb Gesang nicht gewonnen hat, ist vielleicht ein Segen: Zu viele zu früh hochgelobte Sängerinnen und Sänger verschwinden allzu schnell wieder von der Bildfläche. Ich bin gespannt, wie es für Ewert weitergeht.
Kulturmensch(en) des Jahres
Die Festivalmacher: Esthea Kruger, Alexander Fleischer, Theresa Maria Romes und Marie-Thérèse Zahnlecker verbindet eines – sie alle haben in Zeiten sinkender Besucherzahlen neue Klassikfestivals in Würzburg etabliert und über die Pandemie gebracht. Das Festival Neues Lied (Kruger), das Festival Lied (Fleischer) und das Festival Kammermusik! (Romes und Zahnlecker). Bitte weiter so!
Enttäuschung des Jahres
Der neue Bayreuther "Ring des Nibelungen": Musikalisch matt und für den Grünen Hügel ganz klar unterdurchschnittlich. Aber die Regie von Valentin Schwarz ist das eigentliche Ärgernis: Gegen Text und Musik inszeniert, voll sinnloser Pseudosymbole und zum Schluss dann noch nicht mal eine Auflösung. Muss dringend im Sinne der "Werkstatt Bayreuth" überarbeitet, am liebsten aber gleich abgesetzt werden.
Christine Jeske

Höhepunkt des Jahres
Christian Schad in Aschaffenburg: Lange war es angekündigt, seit Juni ist es eröffnet - das Christian Schad Museum in Aschaffenburg. Alle Schaffensperioden des "Meisters der neuen Sachlichkeit" sind vertreten. Eine Präsentation, die trotz der Fülle nicht überfordert, die spannend inszeniert ist, die nicht nur dokumentiert, sondern auch auf sein Leben und die Zeit blickt, in der die Werke entstanden sind.
Kulturbild des Jahres

Entdeckung des Jahres
Landmarken: Einmal eine Pyramide besteigen oder über den Mond spazieren – das ist möglich, ohne nach Ägypten oder auf den Erdtrabanten zu reisen. Im Ruhrgebiet wurden vor Jahren Abraumhalden des Steinkohlebergbaus in einzigartige Anziehungspunkte mit Weitblick und Landmarken verwandelt: etwa der Tetraeder in Bottrop oder die Bramme von Richard Serra in Essen inmitten einer riesigen kahlen Fläche. Spektakulär.
Kulturmensch(en) des Jahres

Kürzlich wurde Paul Maar 85 Jahre alt. Der beliebte Kinderbuchautor arbeitet gerade an seinem zwölften "Sams"-Buch. Nach wie vor beantwortet er einfühlsam die Briefe seiner jungen Leser, spricht offen über die Alzheimer-Erkrankung seiner Frau. Und schreibt mittlerweile auch für Erwachsene: Für "Hund mit Flügeln" schöpfte er aus Tagebüchern, verrät andere Seiten von sich, humorvoll, hintergründig, anrührend.
Enttäuschung des Jahres
Roads not taken: Die eine große Enttäuschung gibt es 2022 nicht. Vielmehr ärgert mich, was ich alles vorhatte und nicht verwirklicht habe. Roads not taken eben: unbegangene Wege. Ein Besuch der Ausstellung mit diesem Titel ist deshalb zur Einstimmung auf das neue Jahr fest eingeplant. Zu sehen ist sie im Deutschen Historischen Museum in Berlin bis November 2024. Das dürfte zu schaffen sein.
Alice Natter

Höhepunkt des Jahres
Höhepunkt, Höhepunkt, ähm . . . puhh. War da 2022 kulturell was? In Bayreuth verletzt sich Bassbariton Thomasz Konieczny bei der Premiere der "Walküre", als ein Sessel unter ihm zusammenbricht. Bis zur Pause singt der Göttervater ungerührt weiter, dann übernimmt spontan Michael Kupfer-Radetzky und rettet die Vorstellung. Aber Höhepunkt? Eines jedenfalls ganz sicher nicht: die unsägliche Documenta-Debatte.
Kulturbild des Jahres

Entdeckung des Jahres
Die Ausgräber beförderten sie im Frühjahr 2021 in Mönchstockheim im Landkreis Schweinfurt sanft aus dem Erdloch, in diesem Juli wird sie offiziell vorgestellt: eine Sensation! "Wir nennen sie Wassergöttin", teilt Bayerns Generalkonservator mit. Die kleine Tonskulptur, 19 Zentimeter hoch und 3000 Jahre alt, sei für Mitteleuropa einzigartig, sagen die Archäologen. Unterfranken damals schon sautrocken, die Göttin eine rituelle Opfergabe an einer kostbaren Quelle?
Kulturmensch(en) des Jahres
Felicitas Klein, Restauratorin aus Berlin. Eine Retterin! Ihr kluges, umsichtiges Vorgehen bei der Rahmung verhinderte die Kartoffelbrei-Katastrophe. Mitte Oktober schleudern zwei Vertreter der "Letzten Generation" im Potsdamer Museum Barberini die flüssige Pampe auf Monets "Getreideschober". Es spritzt, es trieft... – aber dank Kleins Filz-Stückchen auf der Leiste zwischen Leinwand und Glas kommt das Gemälde unbeschadet davon.
Enttäuschung des Jahres
Ja, okay, eine Enttäuschung war’s nicht. In unseren überreizt-überdrehten und gerne hysterischen Zeiten, in denen Reflex vor Reflektion kommt, ist es das Erwartbare: Ein Ballermann-Song wird zum Aufreger des Jahres. Die Stadt Würzburg schafft es in die ganz dicken Schlagzeilen, weil sie den Grölsong (Libretto: „La-la-la-la“) im Kiliani-Festzelt verbietet. Dabei hat der OB selbst schon zu dem saublöden vulgären Hit getanzt.
Michi Bauer

Höhepunkt des Jahres
Dunkelschwarzes Osterfest: 2020 ließ mich die Pandemie nicht nach München zu meinem Lieblings-Indoor-Festival, 2021 blieb die Karte ebenfalls im Schubfach liegen. Dieses Jahr die frohe Osterbotschaft wenige Wochen vor dem Termin: Das Dark Easter Metal Meeting findet statt. Zwei Tage Black-, Doom-, Dark- und Extrem-Metal – düsterer geht’s kaum als in den drei kleinen, proppevollen Hallen des "Backstage". Trotz der Enge eine Befreiung.
Kulturbild des Jahres

Entdeckung des Jahres
Schwierige Schweden: Sie haben mal Black Metal gemacht. Oder war’s Post Black? In jedem Fall frostig und depressiv. Dann mit Neofolk-Klängen herumexperimentiert. Stets stachen bei Ofdrykkja wehklagende Schreie ins Mark, säbelten sich schrille Gitarren durchs Gebein. Und jetzt? Mit "After the Storm" liefert das schwedische Trio so melancholischen wie puren Düster-Folk – den nicht mal Mirandas Feengesang verkitschen kann. Was für ein Album zur Winterszeit!
Kulturmensch(en) des Jahres
Ferdinand von Schirach: Der ehemalige Strafverteidiger ist ein exzellenter Geschichtenerzähler. Schade: Dass "Nachmittage" in deren drei, vier durchgelesen ist. Wertvoll: Dass diese in Erinnerung bleiben. 26 Notizen über Liebe, Tod, Kultur und Glauben packt von Schirach in 176 Seiten. Er spielt mit Absurditäten, platziert wenig perfekte Menschen in perfekte Locations. Seine Bücher sind Spiegel, die nicht jeden Blick wunschgemäß reflektieren.
Enttäuschung des Jahres
Die Menschen: Nein, nein, nicht alle. Aber: Menschen, die der Kultur den Rücken zugewendet haben nach zwei Jahren Pandemie. Menschen, die nicht mehr ins Theater, in Museen oder auf Konzerte gehen. Menschen, die solche Veranstaltungen und Einrichtungen überhaupt erst ermöglichen würden. Ohne Gäste und Helfer fehlt Planungssicherheit. 2022 hätte der Hunger auf Kultur riesig sein müssen. Stattdessen: viele Absagen und Improvisation.
Joachim Fildhaut

Höhepunkt des Jahres
Alice: Tom Waits’ Avantgarde-Musical klappt einen berührenden Bilderbogen auf, geerdet und aktualisiert in der Biografie des Wonderland-Autors Louis Carroll. Zum 35. Geburtstag des Würzburger Theaters am Neunerplatz haben die Drexler-Familie und Freunde das Stück mit 20 Beteiligten gestemmt – geschmeidiger als die Original-Inszenierung von Robert Wilson. Das war nicht nur für die Bedingungen eines Privattheaters herausragend.
Kulturbild des Jahres

Entdeckung des Jahres
Heimat: Edgar Reitz’ Serien überraschten durch Intensität, Stil, Genre-Mix, vieles mehr – und in Staffel 2 durch Auftritte des Würzburger Pianisten Armin Fuchs und von Gwendolyn von Ambesser in einer anspielungsreichen Nebenrolle: Als Regisseurin am Chambinzky (also im Leben, nicht in der "Heimat"-Rolle) vertrat sie die Maximen ihres Vaters Axel, der ja Ziel von Reitz’ Kampagne "Papas Kino ist tot" gewesen war.
Kulturmensch(en) des Jahres

Doppelspitze: Andi Schmitt, Vorsitzender der Vereinigung Kunstschaffender Unterfrankens, und Geschäftsstellenleiterin Martha Schubert-Schmidt haben die Verbands-Galerie Spitäle so profiliert, dass der Freistaat sie zu einem von zwölf "Kreativorten in Bayern" 2022 ernannte, die viel mehr als Bildende Kunst fördern, nämlich auch Musik, Film, Architektur, Tanz. Wie gut sie die Kerndisziplin pflegen, zeigt die laufende Winterausstellung "Lichtblick".
Enttäuschung des Jahres
Kritik meiner Urteilskraft: Neulich wollte ich wissen, was die weiblichen Popstars der Gegenwart musikalisch unterscheidet, und klickte mich bei YouTube ab Kate Perry durch. Bald schlug der Algorithmus Taylor Swift vor, Ariana Grandes, Miley Cyrus... Ich klickte hin, her, aber: Timbre, Melodieniveau, Effekte, Arrangements, Flirts mit der Kamera – alles gleich. Unterschiede hörte ich erst bei Rihanna oder Beyoncé. Bisschen spät.
Siggi Seuß

Höhepunkt des Jahres
Shakespeares Komödie „Was ihr wollt“ als Meininger Kammerspiel. Gespielt nur von Männern, wie zu Shakespeares Zeiten. Wohltuend androgyn, ohne jedes Gendersternchen. Das traditionelle Rollenschema verschwimmt. Schnell verflüchtigt sich "das" Männliche und "das" Weibliche. Das Geschlechter übergreifende Spiel der Eitelkeiten enttarnt die menschlichen Selbstbilder als Illusionen, die an der Wirklichkeit zerschellen.
Kulturbild des Jahres

Entdeckung des Jahres
Ein Museum, das mir als Kind Furcht einflößte: Das Hygienemuseum in Dresden. Verlorenheit zwischen gläsernen Figuren und dem Geruch von Reinigungsmitteln. Und heute? Ein Museum für Alle und Alles. Zum Betasten, Begreifen, Bestaunen. Aktuelle Ausstellungen: "Künstliche Intelligenz" und und "Fake. Die ganze Wahrheit". Die Angst hat in diesem Haus keine Chance mehr. Buntes, quirliges Leben. Die Welt in einer Nussschale.
Kulturmensch(en) des Jahres
Die couragierten Frauen, die im Iran für Freiheit kämpfen und die ungezählten ukrainischen Künstler und Künstlerinnen, die sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Zerstörung ihres Landes zur Wehr setzen. Musiker, zum Beispiel, die bei Stromausfall im Dunkeln weitermusizieren oder zwischen den Bombenalarmen auf den Straßen die vorbeieilenden Menschen erfreuen. Wir lassen uns nicht vom putinschen Terror brechen!
Enttäuschung des Jahres
Wohltemperiertes Enttäuschtsein – nichts leichter als das! Aber es nervt in diesen Krisenzeiten. Kritik – selbstverständlich. Nadelstiche in aufgeblasene Unternehmungen – klar. Pikser in Eitelkeitsregionen – gar nicht so einfach, Grenzen zu ziehen! Aber Blut, Schweiß und Tränen der Beteiligten achten. Freude über jeden Versuch, die Schrecklichkeiten dieser Welt am Schlafittchen zu packen, selbst wenn man scheitert. Den Versuch war's wert.