Diese Augen. Diese wissenden, einsamen, traurigen blauen Augen. Wenn man in diese Augen sieht, kann man nicht anders, als sich zu wünschen, im Leben dieses Mannes eine Rolle zu spielen. Und das ist eins der Probleme. Wer im Leben von Dr. Gregory House eine Rolle spielt, dem geht es meist ziemlich dreckig. Der ist kurz zuvor zusammengebrochen, dem ist plötzlich Blut aus allen möglichen Körperöffnungen ausgetreten, der sieht Gespenster oder gleich gar nichts mehr. Und niemand weiß, warum. Andererseits: Es kann ihm nicht viel Besseres passieren, als in die Hände von Dr. Gregory House zu geraten. House ist Chef der diagnostischen Abteilung des Princeton Plainsboro Teaching Hospitals. Wer sein Patient wird, der hat eine erste Hürde genommen: House nimmt nur die Fälle an, die ihn interessieren. Die aussichtslosen, die unlösbaren.
House wird den Patienten provozieren und beleidigen, um die Wahrheit über seinen Lebenswandel herauszubekommen. Denn eins steht fest: Jeder lügt, so einer der Glaubenssätze, auch Housismen genannt. House wird den Patienten gegen seinen Willen schmerzhaften Untersuchungen unterziehen, vollpumpen mit allem, was der Giftschrank hergibt, aber am Ende wird er den Fall gelöst haben. Und – was ja nicht selbstverständlich ist – in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle wird der Patient sogar überleben.
Man kann House vermutlich nur lieben oder hassen. Moralische Regeln gelten ihm nichts, und doch ist sein Handeln von größerer ethischer Integrität als das der anderen. Die US-Serie „Dr. House“ ist nicht zuletzt Diskussion des Unterschieds zwischen moralischem und ethischem Handeln – Houses Mitarbeiter haben ihr Regelwerk auf der Basis von Herkunft, Erziehung und Ausbildung. House dagegen handelt völlig amoralisch. Er entscheidet scheinbar voraussetzungslos immer wieder neu, was falsch und was richtig ist. Und behält recht: Die Grundsätze der anderen entpuppen sich immer wieder als dünne Lackschicht, und nur House wagt es, sie an- und abzukratzen. Darunter treten dann die entscheidenden Fragen zutage, auf die es eben keine einfachen Antworten gibt.
Das muss man erst mal aushalten: ein Leben ohne den Handlauf der moralischen Konvention, nur Wahrheit und Fakten verpflichtet. Vielleicht ist das die symbolische Bedeutung seiner körperlichen Behinderung: House geht am Stock, seit ein Muskelinfarkt ihn beinahe das rechte Bein gekostet hätte. Die Geschichte wird gegen Ende der ersten Staffel in Form einer brillanten Vorlesung erzählt, die House vor ebenso eifrigen wie arglosen Studenten hält. Seine damalige Lebensgefährtin Stacy entschied, während er im künstlichen Koma lag, dass die abgestorbenen Teile seines Oberschenkel-Muskels entfernt werden sollten. Um sein Leben zu retten, und gegen seinen zuvor ausdrücklich geäußerten Willen. Doch für House ist die größte Gefahr nicht der Tod, sondern die Liebe – Stacy macht ihn aus Liebe zum Krüppel, weil sie ihn nicht verlieren will, und verlässt ihn schließlich doch.
Wer liebt, der hat etwas zu verlieren. Wer liebt, setzt sich der Gefahr aus, unheilbar verletzt zu werden. Wer es zulässt, geliebt zu werden, nicht minder. Kaum je wird sein Vorname erwähnt – so als sei schon das zu viel der Intimität. Alle nennen ihn schlicht House. Sein Freund Wilson, der durchaus nicht ungeistreiche Onkologe und Gutmensch (Robert Sean Leonard, „Club der toten Dichter“), sein Team und seine Chefin Cuddy. Dass er sie jahrelang und mit wachsender Verzweiflung liebt, das wissen alle. Er selbst natürlich auch, und es ist bestürzend, wie dieser brillante Kopf, dem kaum eine menschliche Regung entgeht, der sich hinter seiner zynischen Fassade mehr für seine Mitmenschen interessiert als jede andere Figur in diesem Drama – wie dieser unendlich aufmerksame und mitfühlende Mensch es erst fertigbringt, den Mistkerl abzuschalten, als es fast schon zu spät ist. Am Ende der sechsten Staffel – soeben zu Ende gegangen bei RTL – scheinen die beiden also zusammenzukommen (angeblich geht es im April weiter).
Der großartige englische Schauspieler Hugh Laurie spielt diesen Dr. House – sarkastisch, verletzlich, geistreich und ohne den leisesten Hauch von Selbstmitleid. Sein ganz und gar undemonstratives Hinken erinnert an Max Frischs Betrachtung im „Gantenbein“: Wer einen Blinden spielt, muss nur hin und wieder, sozusagen in Schlüsselsituationen, als Blinder erkennbar sein. Dann wird er auch dann als Blinder durchgehen, wenn er Dinge tut, die eigentlich nur ein Sehender tun kann.
Laurie war zuvor vor allem in komischen Rollen aufgefallen, etwa im Verein mit seinem engen Freund Stephen Fry. Sein amerikanischer Akzent klingt so authentisch, dass sich in den ersten Jahren alle wunderten, als er in den Talkshows von Jay Leno oder David Letterman plötzlich britisches Englisch sprach. In diesen ersten Jahren auch war ihm die Fassungslosigkeit über seinen Erfolg anzumerken. Er rechnete damit, dass der House-Hype jederzeit vorbei sein könnte.
Dass das noch lange nicht eintreten dürfte, liegt wohl auch daran, dass die Produzenten es gewagt haben, House mit starken Charakteren zu umgeben. Die Dispute mit Wilson sind spannende philosophische Kolloquien. Ein brillanter Kunstgriff auch das Ärzteteam, das House umgibt. Cameron, die Moralistin, die schließlich Dreizehn Platz macht, die in ihrer Bereitschaft, das Unerhörte zu denken, House vielleicht am ähnlichsten ist. Foreman, der Schwarze, dem es bei aller Opposition einfach nicht gelingt, sich von House zu emanzipieren. Chase, der wohlhabende Australier, schillernde Persönlichkeit zwischen Opportunismus und radikaler Konsequenz, und Taub, der verführbare Ex-Schönheitschirurg. Sie alle bilden das soziale Instrumentarium, auf dem House virtuos, egoistisch, mitunter auch grausam spielt. Um die immer neuen medizinischen Puzzles zu lösen, aber auch, um seiner unstillbaren Neugier zu frönen. Seine manipulativen Spielchen sind nicht selten entwürdigend. Aber man hüte sich, ihn menschenverachtend zu nennen.
House ist ein Suchender ohne Ziel. Ein Pilger ohne Glauben. Sozusagen wider besseres Wissen wagt er den Kampf gegen die Tablettensucht. Und stellt – wenig überrascht – fest, dass danach mitnichten neue Lebensperspektiven auf ihn warten. Kurz bevor er wieder zum geliebten Schmerzmittel Vicodin greifen will, erhört ihn Cuddy. Vielleicht ist er ja diesmal bereit, das größte Risiko von allen einzugehen. Das tödliche Risiko der Liebe.