Singe, Göttin, den Zorn des Peleussohnes Achilleus . . . “ Lesen Sie's ruhig noch einmal laut (egal, wer außer Ihnen noch am Frühstückstisch sitzt). Merken Sie's? Sogar in der deutschen Übersetzung ist die Kraft der Worte zu spüren, mit denen die „Ilias“ beginnt. Im altgriechischen Original tönt's noch beeindruckender. Und erst die Geschichte, die dahintersteckt! Da geht's um Eifersucht zwischen Göttinnen und Göttern, um den Raub der schönsten Frau der Welt, um den zehn Jahre dauernden Trojanischen Krieg, um Hass und Liebe, um List und Tücke. Homer, dem das Epos zugeschrieben wird, malte, als eine Art „Best of“ diverser Mythen, mit 15 500 Hexametern ein Panorama menschlicher Schwächen und Stärken. Die ähnlich umfangreiche „Odyssee“ (rund 12 000 Verse) spinnt den Faden fort. Hauptfigur ist dort der listenreiche Odysseus, der auch im Kampf um Troja eine entscheidende Rolle spielte.
Beide Epen entstanden im siebten oder achten Jahrhundert vor Christus, die zugrunde liegenden Sagen sind noch älter. Altes Zeug? Wirklich nicht! Ilias und Odyssee und die Mythen, auf denen sie fußen, sind bis heute in unserem Denken verankert, thematisieren aktuelle Probleme – denn Troja ist überall. Beispiele:
Trojaner im Computer
Nach zehn Jahren erfolgloser Belagerung gelangen die Griechen mithilfe einer listigen Idee des Odysseus in die Festung Troja: Krieger verbergen sich im Bauch eines großen hölzernen Pferdes. Die nichts ahnenden Trojaner ziehen es in die Stadt. Nachts steigen die Griechen aus dem Trojanischen Pferd und öffnen die Stadttore. Angeregt durch Homers Erzählung wird heute der Begriff „Trojaner“ oder „Trojanisches Pferd“ für ein schädliches Computerprogramm verwendet. Wie das Holzpferd der Griechen wird es, getarnt als nützliche Anwendung, in Computer eingeschleust und richtet dort Schaden an – oder späht den nichts ahnenden Nutzer aus.
Odyssee und Navi
Weil er den Meeresgott Poseidon verärgert hat, braucht Odysseus, Erfinder des kriegsentscheidenden Trojanischen Pferdes, an die zehn Jahre, bis er es von Troja in seine Heimat Ithaka, eine Insel westlich von Griechenland, schafft. Unterwegs muss er mit einem einäugigen Riesen fertig werden, den Verderben bringenden Sirenengesängen widerstehen, und dann wird sein Schiff auch noch beinahe in der Meerenge zwischen Skylla und Charybdis zermalmt. Homers „Odyssee“ hat nicht nur die Literatur beeinflusst, bis hin zum „Ulysses“ von James Joyce. „Odyssee“ ist auch in vielen Sprachen zum Begriff für „Irrfahrt“ geworden. Wer heute irgendwo verspätet ankommt, weil ihn das Navi mal wieder über schräge Routen geführt hat, stöhnt: „Ich hab' eine wahre Odyssee hinter mir.“
Kirke
Wenn sich jemand bezirzen lässt, hat auch das mit einem Abenteuer des Odysseus zu tun. Korrekt müsste es eigentlich „bekirken“ heißen. Denn die Zauberin, von der das Wort abstammt, heißt auf Griechisch Kirke. Sie verwandelt die Gefährten des Ithakerkönigs in Schweine. Odysseus selbst wird zwar nicht zum Tier, aber von der schönen Kirke doch so bezaubert, dass er ein Jahr lang auf ihrer Insel bleibt und erst durch Drängen seiner wieder zurückverwandelten Gefährten bereit ist, den Anker zu lichten. Schließlich wartet auf Ithaka Gattin Penelope.
Überbevölkerung
Schon vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden hatten die Menschen offenbar das Gefühl, die Erde sei überbevölkert. Dies drückt der Mythos aus: In der Vorgeschichte zum Trojanischen Krieg beklagt sich Gaia (die Erde) bei Zeus, dass zu viele Menschen auf ihr lebten. Der Chefgott denkt zunächst an eine Sintflut, um Gaia zu erleichtern. Dann zettelt er aber lieber einen großen Krieg an: Sollen sich die Menschen doch gegenseitig töten (so ein Gott kann ganz schön zynisch sein).
Aus heutiger Sicht mussten die alten Griechen keine Angst vor Überbevölkerung haben: Um 500 vor Christus gab es gerade mal 100 Millionen Menschen. Heute sind es 7,3 Milliarden. Tendenz steigend.
Die Gründung Roms
Die Gründung Roms ist indirekt eine Folge des Trojanischen Krieges. Der trojanische Held Aeneas entkommt dem Inferno nach der Eroberung. Mit seinem greisen Vater und seinem Sohn flieht er übers Meer. Er landet im heutigen Italien. Sein Sohn gründet – in einer Version der Geschichte – die Stadt Alba Longa, mythische Mutterstadt Roms. Auch Romulus und Remus, die „Väter“ Roms, werden im Mythos als Nachfahren des trojanischen Kriegers gesehen. Das Schicksal des Aeneas erzählt ausführlich die „Aeneis“ des Vergil. Der Römer wandelte damit auf den Spuren des großen Homer. Auch stilistisch.
Opferung des eigenen Kindes
„Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar.“ Abraham tut wie geheißen, wird aber im letzten Moment von einem Engel daran gehindert, Isaak zu töten. Die gerade noch verhinderte Opferung des eigenen Kindes ist ein Mythenmotiv, das in verschiedenen Kulturkreisen vorkommt. Eine ähnliche Episode wie im Alten Testament (Genesis 22) gibt es im Vorfeld des Trojanischen Krieges: Agamemnon, Heerführer der Griechen, hatte Artemis verärgert. Die blockierte das Vorwärtskommen der griechischen Flotte. Es gehe nur dann weiter, wenn Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfere, hieß es in einer Weissagung. Der Griechenführer tat wie geheißen. Doch im letzten Moment ersetzte Artemis das Mädchen durch eine Hirschkuh. In einer anderen Version der Geschichte tötet Agamemnon seine Tochter tatsächlich auf dem Opferaltar.
Das wahre Troja
Troja liegt an der Nordwestspitze Kleinasiens in der heutigen Türkei. Jedenfalls nimmt man das an, seit Heinrich Schliemann in den 1870er Jahren dort passende Ruinen gefunden hat. Wirklich sicher ist das aber nicht. Nicht sicher ist auch, ob der Krieg zwischen Trojanern und Griechen historisch ist. Mit Sicherheit nicht historisch ist das Urteil des Paris. Der Trojaner löst den Krieg aus, als er entscheiden soll, welche Göttin die schönste ist: Athene, Hera oder Aphrodite. Er wählt Aphrodite, die ihm die schönste Frau der Welt verspricht – Helena. Paris entführt sie. Doch Helena ist mit Menelaos verheiratet, dem Bruder des mächtigen Agamemnon. Die beiden sammeln alle berühmten Helden Griechenlands um sich, und man zieht gen Troja, um Helena zu holen – auch mit Gewalt.