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WÜRZBURG: Kulturspeicher: Vorfahrt für Veränderung

WÜRZBURG

Kulturspeicher: Vorfahrt für Veränderung

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    „Abknickende Vorfahrt“ (1962) von Timm Ulrichs. Das Arrangement aus Verkehrsschildern (amtlich: Zeichen 843) bildet durch Umstecken immer neue Muster.
    „Abknickende Vorfahrt“ (1962) von Timm Ulrichs. Das Arrangement aus Verkehrsschildern (amtlich: Zeichen 843) bildet durch Umstecken immer neue Muster. Foto: Foto: Ellen Poerschkem, VG Bild-Kunst, Bonn

    Ein Kunstwerk „war das eine, immer präsente Objekt, das als Quelle des Vergnügens und der Inspiration dienen musste – immer und immer wieder, Jahr für Jahr, ohne irgendwann schal zu wirken.“ So charakterisieren Benjamin Blech und Roy Doliner in ihrem Michelangelo-Buch „The Sistine Secrets“ (Die sixtinischen Geheimnisse) die Kunst der Renaissance und des Barock. Und weil so ein Kunstwerk eben immer dasselbe blieb, musste es möglichst viele verschiedene Schichten und Deutungsmöglichkeiten haben, musste voller Geheimnisse und Symbolik stecken. Nur dann würden sich auch mehrere Generationen von Betrachtern nicht satt sehen – und immer wieder Neues in dem Bild finden. Was natürlich voraussetzte, dass der Betrachter sich Zeit für das Kunstwerk nahm und versuchte, zu den Bedeutungsschichten vorzudringen.

    Alles wird anders

    Ein paar Jahrhunderte später ist alles anders. Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Mensch – anders als in Barock oder Renaissance – von Bilder umgeben, überall und immer. Von Fotografien und Plakaten, von Grafiken und Werbebotschaften. Als in den 1960er Jahren das Fernsehen zum Massenmedium aufstieg, veränderten sich die Sehgewohnheiten radikal. Plötzlich war der Betrachter mit Bildern konfrontiert, die sich ständig wandelten. Das einzelne Bild verlor an Wert. Nur die blitzschnelle Abfolge ergab Sinn.

    Der Mensch stumpfte an dieser Bilderflut ab. Ewige Kunst? Mehrere Bedeutungsebenen? Symbolik? Uninteressant. Nur die Bewegung fesselt nun den Blick.

    Ob bewusst oder unbewusst mitgerissen vom Strom des Zeitgeists: Künstler reagierten darauf. Sie schufen „Kunst, die sich verändern lässt“, so der Untertitel der Ausstellung „Spielraum“ im Würzburger Museum im Kulturspeicher. Da ordnen sich etwa durch statische Aufladung kleine Balsaholz-Streifen immer wieder neu, werden Muster durch Magnete beeinflusst, werden durch Drehen oder simples Umstecken zu immer wieder anders aussehenden Werken.

    Gegen den Künstler-Kult

    Vertreter dieser veränderbaren Kunst waren etwa Max Bill, Viktor Vasarely oder Timm Ulrichs. Viele Künstler der Sonderschau sind auch in der Dauerausstellung mit Konkreter Kunst aus der Sammlung Ruppert im Kulturspeicher vertreten.

    Ihren Höhepunkt erreichte die veränderliche Kunst in den 1960er Jahren. Das habe auch mit den damals sich verändernden Sehgewohnheiten zu tun, so Kulturspeicher-Leiterin Marlene Lauter. Aber es sind noch andere Faktoren im Spiel.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Kreativen auch das althergebrachte Konzept vom ewig gültigen Kunstwerk hinterfragen. Und weil vor allem die zweite Hälfte der Sechziger auch für eine gesellschaftliche Neuorientierung stand – Stichwort „68er-Revolte“ – sei es auch darum, gegangen, den Künstler-Kult zurückzudrehen, sagt Frederik Schikowski, Gastkurator der Ausstellung, die zuvor in der Landesgalerie im oberösterreichischen Linz zu sehen war.

    Dahinter stand die Idee: „Jeder ist gleich. Ein Künstler ist nichts Besonderes.“ Das erreichten die Künstler auch mit dem Zufall, den sie durch die Bewegung ins Kunstwerk einschleusten. Denn wenn der Zufall mitgestaltet, wird der schöpferische Mensch ein Stück weit unwichtig.

    Durch die Veränderung bilden die Werke auch das Vergehen der Zeit ab. Womit die Künstler auch auf die Idee von der Raumzeit reagierten, die in den Sechzigern populär wurde. Zudem ist Kunst, die sich verändert, ja ein Bild der Wirklichkeit. Die ist ja auch permanentem Wandel unterworfen.

    Es verstärke, so Frederik Schikowski, auch die Bindung des Besitzers an das Werk, wenn er es mit eigenen Händen und nach eigenen Vorstellungen immer mal umarrangieren könne. Die 67 Arbeiten in der Ausstellung werden ausschließlich manuell umgestaltet und nicht etwa elektrisch.

    Nicht zuletzt hat auch der Spieltrieb seinen Anteil an veränderlicher Kunst, und zwar nicht nur der persönliche Spieltrieb des Künstlers, Betrachters oder Besitzers. Das Ganze war auch intellektuell unterfüttert: Das Konzept vom „Homo ludens“ steckt hinter vielen Werken. Es besagt, dass die großen kulturellen Errungenschaften der Menschheit aus dem Spiel erwuchsen.

    So verspielt und auf den ersten Blick sogar banal manches Werk wirken mag, es steckt viel hinter den Konstruktionen: viel Zeitgeist, viel gesellschaftlicher und auch viel kunsthistorischer Sprengstoff. Mag es auch ein halbes Jahrhundert her sein, dass die veränderbare Kunst in voller Blüte stand: Sie spiegelt auch unsere Medienwelt, in der die Oberflächlichkeit der Bilder durch Internet und Smartphone im Vergleich zu den Sechzigern inflationär zugenommen hat.

    Der Kulturspeicher-Besucher muss sich also nicht zwangsweise (ausschließlich) von Bewegung und Veränderung fesseln lassen. Er kann auch hier nach verschiedenen Bedeutungsschichten fahnden. Er muss sich nur Zeit dafür nehmen. Insofern sind die Werke im Kulturspeicher gar nicht mal so weit weg von Bildern aus Barock oder Renaissance – auch wenn die damals unter völlig anderen Voraussetzungen entstanden.

    Ausstellung im Kulturspeicher „Spielraum. Kunst, die sich verändern lässt“ heißt die Ausstellung im Würzburger Museum im Kulturspeicher. Zu sehen sind 67 Werke von 47 Künstlern aus sechs Ländern. Alle sind – etwa durch Drehen, Schieben, Reiben – veränderbar. Die meisten Werke darf der Museumsbesucher allerdings nicht selbst manipulieren. Filme, welche die möglichen Variationen zeigen, helfen darüber hinweg. Und auch bei Führungen werden einzelne Werke verändert. Seinen Spieltrieb und seine Kreativität kann der Besucher immerhin an einigen Werken ausleben, die eigens im hinteren Teil der Ausstellung aufgebaut wurden. Öffnungszeiten: Dienstag 13–18, Mittwoch und Freitag bis Sonntag 11–18, Donnerstag 11–19 Uhr. Bis 22. April.

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