Es ist so, dass ich in Wahrheit überhaupt keine Bücher für Kinder mache. Ich mache Bücher für den Teil in uns – in mir und in meinen Freunden –, der sich nicht geändert hat, der noch kindlich ist.“ Leo Lionni, nach Ansicht von Kollegen zu Lebzeiten ein ewiges Kind, wäre am Mittwoch, 5. Mai, 100 Jahre alt geworden. Seine Kindheitsträume hat der Autor und Illustrator zeitlebens nie vergessen. Sie waren die Quelle seiner Kreativität.
Leo Lionni liebte als kleiner Junge die Natur, Pflanzen, Tiere. Er legte sich gerne ins Gras. Die Halme verwandelten sich für ihn in Mammutbäume und ein Käfer in ein angreifendes Nashorn, steht in seinen Erinnerungen. In seinem Kinderzimmer baute er in Terrarien seine Miniaturkontinente auf. Er stattete sie mit Hügeln, Seen, Inseln und Stränden aus, „kleine feuchte Welten, über denen die Stille lag und ein Schweigen voller Lebendigkeit“. Er sammelte Raupen, legte sie in Schachteln, die er mit Kieseln und Schneckenhäuser gefüllt hatte, und beobachtete, wie sie sich in kleine längliche Wattebällchen verwandelten. Als eines Tages seine Mutter seinen Schrank öffnete, kam ihr ein Schwarm Schmetterlinge entgegen. Erwachsen geworden, verewigte der Bilderbuchkünstler seine Kindheitserlebnisse zwischen Buchdeckeln – mit Wasserfarben, Stempeldrucken oder Papiercollagen.
Leo Lionni sollte jedoch 50 Jahre alt werden, bis er sein erstes Kinderbuch veröffentlichte: „Das kleine Blau und das kleine Gelb“. Die Idee dazu entstand nicht inmitten der Natur, sondern 1959 auf einer hektischen Zugreise. Leo Lionni war mit seinen lebhaften Enkeln Annie und Pippo unterwegs. Um sie bei Laune zu halten, riss er aus einer Anzeige blaue und gelbe Papierfetzen und dachte sich eine Geschichte aus. Seither wissen schon kleine Kinder in aller Welt, dass die beiden Farbkleckse grün werden, wenn sie sich innig umarmen. Dieses Buch bezeichnete Leo Lionni als kleines Wunder. Er beschloss, fortan als Autor und Illustrator zu arbeiten. Als habe er die umwälzende Veränderung in seinem Leben geahnt, kündigte er kurz vor dieser Zugreise seinen Job als Art Director bei „Fortune“, einem amerikanischen Wirtschaftsmagazin – obwohl er in seinem Beruf sehr erfolgreich war. Aber es warteten unerfüllte Träume, die gelebt werden wollten – ohne ein sicheres Auskommen im Hintergrund. Deshalb verließ er die Welt der kommerziellen Kunst, wechselte zur Bilderbuchkunst und inspirierte andere Illustratoren, zum Beispiel Eric Carle, den Vater der kleinen Raupe Nimmersatt.
1963 eroberte Leo Lionnis viertes Buch, „Swimmy“, die Herzen der Kinder. Die Geschichte vom schwarzen Außenseiter innerhalb des roten Fischschwarms erhielt 1965 den Deutschen Jugendliteraturpreis für das beste Bilderbuch. Es war seine erste Fabel. „Swimmy“ wurde zum Vorbild seiner weiteren Bücher, denn es „enthält alle Grundsätze, die meine Gefühle, meine Hände und meinen Geist meine lange Karriere als Kinderbuchautor hindurch geleitet haben“. Seine Bildergeschichten waren Botschaften an junge Menschen, wie sie in der Welt ihren Platz finden können. Leo Lionni wollte mit seinen Büchern Vorurteile abbauen, Einfühlungsvermögen wecken und vermitteln, dass Mut, Ausdauer und Köpfchen zu guten Lösungen führen können. „Meine Gestalten sind Menschen in Verkleidung, und ihre kleinen Probleme und Situationen sind menschliche Probleme, menschliche Situationen.“
1967 erschien eines seiner berühmtesten Bücher. Hauptperson ist Frederick, eine kleine graue Maus, die noch heute in vielen Kinderzimmern zu Haus ist, Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt für die vielen langen Wintertage, damit es immer etwas gibt, worüber alle Mäuse sich freuen und reden können. Es ist Poesie mit Tiefgang.
Schon früh zeigte sich Leo Lionnis künstlerische Ader. Der Sohn jüdisch-christlicher Eltern wuchs in seiner Geburtsstadt Amsterdam, in Brüssel, Philadelphia (USA) und im italienischen Genua auf. Bereits als Kind lernte er fünf Sprachen, verbrachte viel Zeit in Museen und zeichnete. Als er seine erste Staffelei geschenkt bekam, war für ihn klar: Er wollte Maler werden. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler wurde es auf Umwegen. Viele Jahre später sollte Leo Lionni sagen: „Von alle dem, was ich in meinem Leben getan habe, hat mich wenig so sehr und so tief befriedigt wie meine Kinderbücher.“. Mit ihnen wollte er Menschen jeden Alters ansprechen. Er veröffentlichte rund 30 Bilderbücher. An seinem Lebensende erkannte er, warum er ausgerechnet Tiere zum Sprechen brachte. „Die Protagonisten meiner Fabeln sind die Frösche, Mäuse, Schildkröten, Schnecken und Schmetterlinge, die vor mehr als einem Dreivierteljahrhundert in meinem Zimmer lebten“. Leo Lionni starb im Alter von 89 Jahren in Italien.
Zum 100. Geburtstag Leo Lionnis sind bei Beltz & Gelberg Neuauflagen der Bilderbuchklassiker „Frederick“ (erstmals mit Hörspiel-CD von Frederik Vahle, ab 3, 14,95 Euro) sowie „Das größte Haus der Welt“ (ab 4, 12,95 Euro) erschienen. Lieferbar sind unter anderem auch Miniausgaben von „Swimmy“, „Cornelius“ oder „Der Buchstabenbaum“ (je 5,95 Euro). Leo Lionnis Erstlingswerk „Das kleine Blau und das kleine Gelb“ gibt's bei Oetinger (ab 4, 9,90 Euro).