Wenn die Aufklärung ihre damals gegebenen Versprechen eingelöst haben soll, dann müssten Toleranz, Verständnis und Demut heute täglich gelebte Werte unserer Gesellschaft sein. Denn das Lesen, so lautete die seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Hoffnung, bilde den Menschen, forme ihn zu einem reflektierenden, vernunftgeleiteten Wesen.
Und gelesen wird heute tatsächlich – mehr als je zuvor: auf Smartphones und Tablets, in Suchmaschinen und den sozialen Netzwerken. Lesen bildet? Offenbar nicht! Das Resultat aber hat mit Reflexion und Vernunft nicht viel gemein. Stattdessen erleben wir die tägliche Konfrontation ideologisch starrer Positionen. Je nach Standpunkt leben wir in einer Gesellschaft der Frauenfeindlichkeit oder aber im Gegenteil der feministischen Hysterie, der linksgrünen Meinungshegemonie oder aber des strukturellen Rassismus. Lesen bildet? Offenbar nicht!
Entweder gibt es gar keinen Zusammenhang zwischen dem Lesen und dem kulturellen Fortschritt des Menschen. Oder aber: Wir haben in jüngerer Zeit das Falsche gelesen.
Drei Arten der Lektüre
Es gibt drei Arten der Lektüre: die belletristische, die informierende und die durchsuchende. Der deutsche Buchhandel hat in den vergangenen Jahren einen dramatischen Absatzeinbruch erfahren. Dabei hat vor allem die belletristische, also die schöngeistige Literatur, massiv an Lesern verloren. Was geschieht beim Lesen von solchen Werken? Und wie könnte sich dieser deutliche Rückgang deshalb auf unsere Kultur ausgewirkt haben?
Beim Lesen von Romanen oder Novellen erschafft sich der Leser eine neue Welt. Jedes Sprachbild, jede Figur und jede Szene will interpretiert werden. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie erklärte es in einem Interview einmal am Beispiel des Begriffs Vater. „Taucht er in einem Text auf, so entstehen in Ihrem Kopf völlig andere Bilder als in meinem“, sagte sie. Welche Persönlichkeit sich ein Leser unter Vater vorstellt – ob es ein herrischer oder ein gütiger Charakter ist –, das hängt von seiner ganz eigenen Prägung und Lebenserfahrung ab.

Ein Leser von belletristischer Literatur weiß, dass seine Vater-Fantasie einzigartig ist und andere Leser ganz andere, ebenso wahrhaftige Vorstellungen entwickeln. Wer Romane liest, erkennt, dass ein Ding von verschiedenen Seiten gleichermaßen wahr sein kann. Oder wie es der Maler Pablo Picasso formulierte: „Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ Es gibt kein besseres Training für Toleranz und Demut als das Lesen von Prosatexten.
Informierende Literatur wie Sachbücher oder auch journalistische Texte aktivieren unsere Fantasie in deutlich geringerem Umfang. Kirsten Boies fiktive Vaterfigur müssen wir uns erst geistig erschaffen: ihr Aussehen, ihre Stimme, ihr ganzes Auftreten. Bei real existierenden Personen wie US-Präsident Donald Trump dagegen ist das nicht nötig. Weil ihr Erscheinungsbild bereits allgemein bekannt ist, gleichen einander auch unsere individuellen Lektüreergebnisse. Wer allein informierende Literatur liest, gewöhnt sich deshalb an einen absoluten Wahrheitsbegriff.
Wust von kleinsten Einheiten
Und wie verhält es sich nun mit der durchsuchenden Lektüre? Sie ist ein vergleichsweise neues Phänomen. Der Blogger Schlecky Silberstein bezeichnet damit in seinem Buch „Das Internet muss weg“ (Knaus-Verlag) das bloße Abscannen von Textflächen im digitalen Raum. Es handelt sich dabei meist um einen Wust von kleinsten Einheiten wie Suchergebnissen auf Google oder Kurznachrichten auf Facebook.
Bei der Belletristik geht es um Sinnerfassung und gleichzeitige Konstruktion einer fiktiven Wirklichkeit. Bei informierender Literatur geht es allein um Sinnerfassung. Beim reinen Durchsuchen von Texten dagegen geht es nicht mal mehr um das. Was zählt, ist der flüchtige Kick einer flüchtigen Emotion: die Empörung über andere Überzeugungen, die Freude über Wortmeldungen von Gleichgesinnten. Abklopfen von Gesinnungsparolen Wenn das Lesen sich immer weiter abkoppelt von unserer Fantasie und auf die reine Informationsaufnahme oder gar ein bloßes Abklopfen von Gesinnungsparolen reduziert wird, dann dürfen wir uns über ideologische Schützengräben nicht wundern.
Vor allem in Schulen ist das Lesen von belletristischen Werken über Jahrzehnte hinweg zugunsten von Sachtexten in den Hintergrund geraten. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann beschreibt in seinem Buch „Bildung als Provokation“ (ZsolnayVerlag) eindrucksvoll, wie im Zuge neoliberaler Bildungsreformen die Ausbildung rein technischer Kompetenzen (Lebensläufe formulieren!) an Bedeutung gewann und das Interpretieren von klassischer Literatur schon bald als überflüssig galt. Das Lesen allein mag uns zwar Kompetenzen bringen, aber noch lange nicht Vernunft: Wir sollten alle wieder mehr Romane lesen.