„Prachtvollen Circuslärm“ fand Friedrich Nietzsche in der „Carmen“-Ouvertüre. Am Würzburger Mainfranken Theater hatte die Premiere der Georges-Bizet-Oper tastsächlich etwas von Zirkus: Denn da musste ein Drahtseilakt ohne Netz geschafft werden.
Bei der Generalprobe war Bryan Boyce krank. Boyce sollte den Stierkämpfer Escamillo singen. Als Ersatz fand sich Adam Kim. Der Bariton ist schon mehrfach am Mainfranken Theater aufgetreten. Nach der Generalprobe am Donnerstagabend erkrankte dann auch Bruno Ribeiro – der männliche Hauptdarsteller. Es wurde knapp: Schon am Samstag war ja die Premiere. Zwar fand sich mit Ricardo Tamura ein Tenor, der den Don José singen konnte. Den Brasilianer aber auch noch in die Inszenierung einzuweisen, dazu reichte die Zeit nicht.
Also singt Tamura bei der Premiere – und Bruno Ribeiro schauspielert dazu. Doch die Professionalität des Ensembles sorgt dafür, dass der Drahtseilakt gelingt. Einfach ist das nicht. Bei Duetten mit Don José müssen die Partnerinnen oder Partner mit Ribeiro spielen – der Gesang kommt aber von der Seite. Einsätze zu koordinieren ist da für Dirigent Enrico Calesso noch schwieriger, als es ohnehin ist. Dass nicht immer alles auf den Sekundenbruchteil klappt – kein Wunder. Aber auch nicht wirklich störend.
Vor allem, weil Ricardo Tamura ein Tenor ist, wie man ihn in Würzburg selten hört. Er ist international gefragt. Demnächst singt er Verdis „Don Carlos“ an der New Yorker Metropolitan Opera, im Herbst steht der Lohengrin in Sao Paolo auf seinem Terminplan. Als Don José zieht Tamura mit Kraft und strahlender, unangestrengter Höhe in Bann. Allein mit seiner Stimme kann er die Seelenzustände der Figur formen. Der Drahtseilakt gelingt auch, weil Calesso aus Bizets Partitur Farben holt, die man den Würzburger Philharmonikern noch vor ein paar Jahren nicht zugetraut hätte.
Der Generalmusikdirektor stürzt sich in die ersten Takte der Ouvertüre (Nietzsches „Prachtvollen Circuslärm“) – viel schneller geht's nicht mehr. Doch auch an gefühlvollen Stellen schillert Bizets Musik. Die Spannung hält vom ersten Takt bis zur letzten Note. Im Orchester sorgen klappernde Kastagnetten für spanisches Flair. In der Inszenierung von Sabine Sterken findet Spanien nicht statt. Daran liegt es wohl, dass die Gastregisseurin am Ende im ausverkauften Haus Buhrufe hinnehmen musste.
Sterken arbeitet konsequent gegen iberische Klischees und vordergründige Erotik an. Sie erzählt eine andere Geschichte, die aber auch drinsteckt in Bizets Meisterwerk. Sie zeigt Menschen an der Grenze. Wörtlich (es geht ja um Schmuggler) und in übertragenem Sinn: Die Figuren gehen an ihre persönlichen Grenzen. Don José überschreitet sie. Aus Liebe zu Carmen wird er zum Gangster und Mörder. Dabei wäre Micaëla die Richtige für ihn. Silke Evers singt gegen ihr albernes Outfit mit altmodischem Regenmantel an. Ihre Micaëla ist vielleicht ein einfaches Mädchen – aber eine Persönlichkeit.
Carmen überschreitet die Grenzen. Laura Brioli – auch sie gesundheitlich angeschlagen – zeigt sie in der Habanera als selbstbewusste Frau, die sich, spürbar durch leichte Tempoverschleifungen, ihre Freiheiten nimmt. Auf dem Bühnenboden ist die Grenze, auf der die Figuren wandeln, durch einen dicken roten Strich markiert. Zum schlimmen Ende hin wird er zur Blutspur.
Martin Rupprechts Bühnenbild zeigt zum einen die Welt armer Leute (da ist ein Fenster aus Plastikflaschen gebaut). Zum anderen wird die Bühne auch zur Projektionsfläche von Wünschen – bis hin zum romantisch strahlenden Sternenhimmel. Wie die Inszenierung, ist auch das Bühnenbild vielschichtig, zeigt Äußeres ebenso wie innere Zustände.
Regisseurin Sterken hat die Dialoge überarbeitet. Es werden mehrere Sprachen gesprochen, passend zur Grenzregion. Das sorgt auch mal für Komik: „Du hast Dreck am Stecken. You're not clean!“
Anja Gutgesell als Zigeunerin, Joshua Whitener und Daniel Fiolka als Schmuggler, Herbert Brand und David Hieronimi als Offiziere Zuniga und Morales und Reinhold Stauder als Schankwirt Lillas Pastia komplettierten das Premieren-Ensemble, in dem Sonja Koppelhuber als Zigeunerin Mercédés zu sehen war. Sie wird immer wieder auch die Partie der Carmen singen. Chor (Einstudierung Michael Clark) und der Unterstufenchor des Matthias-Grünewald-Gymnasiums trugen ihr Teil zur starken Premiere bei.