Es geht um das Nichts. Um die Lücke, die zwischen Gott und dem Menschen klafft, jedenfalls bei Michelangelo: Über die kleine Fläche, die der Renaissance-Meister zwischen dem Zeigefinger des Herrn und dem des Adam gelassen hat, wird seit Jahrhunderten spekuliert. Das Bild im Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle ist eines der berühmtesten und meistreproduzierten Kunstwerke. Es sind gerade diese paar Quadratzentimeter Nichts, an der sich bis heute die spannendsten Diskussionen entzünden.
Was passiert da zwischen Gott und Mensch? Hat Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni – so der vollständige Name des Malers – die Beseelung Adams dargestellt? Falls ja: Hat er den Augenblick davor oder danach festgehalten? Ziehen sich die Finger zurück oder bewegen sie sich aufeinander zu? Ist Adam schon Mensch mit Leib und Seele? Um den eigentlichen Akt der Schöpfung geht es jedenfalls nicht, mag das Bild bisweilen auch mit „Die Erschaffung Adams“ betitelt werden. Denn Eva, laut Altem Testament erst nach Adam geschaffen, ist schon da: Wer sonst sollte die junge Frau sein, die unter der Achsel Gottes auf Adam blickt (womöglich lüstern)?
Mancher hält sie für eine allegorische Darstellung der Weisheit (Sophia). Jedenfalls gibt auch sie Rätsel auf. Vielleicht springt zwischen Gott und Adam demnächst der göttliche Funke über – wie zwischen den Elektroden einer Zündkerze. Doch mag er auch ein Genie gewesen sein – zu Lebzeiten Michelangelos (1475 bis 1564) wusste man noch nichts über Funken, die zwischen Elektroden überspringen, und schon gar nichts von Zündkerzen.
„Eine Mahnung malte der Künstler der römischen Kirche jedenfalls ins Stammbuch: Die Berührung zwischen Gott und Mensch bleibt etwas Geheimnisvolles. Sie ist kein berechenbarer Verwaltungsakt. Es gibt diese Lücke, die Menschen nicht einfach überbrücken können. Mögen sie sich noch so strecken“, überlegt der Würzburger Theologe Erich Garhammer.
Was immer in dem Bild passiert – es passiert in ein paar Quadratzentimetern leerer Fläche. An der Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits. „Es ist“, resümiert der Professor für Pastoraltheologie, „eines der interessantesten Bilder überhaupt.“ Garhammer kennt die Sixtinische Kapelle aus eigener Anschauung. Interessant ist das Bild nicht nur wegen der Lücke. Auch das Drumherum lohnt genaues Hinsehen. „Wer ist hier der Aktive?“, fragt Garhammer. „Wer erschafft hier wen?“
Ohne Weiteres wird das aus dem Fresko nicht deutlich. Gott erschafft den Menschen nach seinem Ebenbild, so steht's im Buch Genesis. Michelangelos Werk zeige aber auch, dass der Mensch Gott nach seinem Ebenbild schaffe, sagt Garhammer. Schließlich ist der Graubärtige, den Michelangelo als Gott zeigt, deutlich als Mensch zu erkennen. Eine derartige Sicht wäre fürs beginnende 16. Jahrhundert revolutionär.
Hier liegt die Spur eines Gedankens, den Ludwig Feuerbach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausformulierte. „Heute würde man Gott in der Bildenden Kunst nicht mehr derart anthropomorph zeigen“, erklärt der Theologe und Kunstkenner. Er würde eher abstrakt dargestellt, letztlich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzogen.
Unter dem Gewand des dynamisch in seiner eigenen, von Putten bevölkerten Sphäre ins Bild schwebenden Gottvaters zeichnet sich ein Busen ab. Zeigt Michelangelo einen zweigeschlechtlichen Gott, einen Hermaphroditen? Solch ein Gottesbild ist vor allem aus fernöstlichen Religionen bekannt. Es symbolisiert Fruchtbarkeit.
Es war revolutionär, was Meister Michelangelo in vierjähriger Mühsal auf den feuchten Putz des Tonnengewölbes malte. Das Gemälde eckte auch beim Auftraggeber, Papst Julius II., an, als es vor 500 Jahren enthüllt wurde. „Man warf Michelangelo vor, er habe sich zu viele Freiheiten genommen“, erklärt Erich Garhammer. Anstatt den Glauben zu illustrieren, habe der Maler zu sehr aus der Fantasie heraus gearbeitet, hieß es. Auch die nackte Haut schockierte Zeitgenossen. Dahinter stand aber nicht in erster Linie Michelangelos Freude an schönen (Männer-)Körpern. Nacktheit zeigt vor allem das neue Menschenbild der Renaissance. Als Ideal galten die klassischen Statuen der Griechen. So wirken denn auch Michelangelos biblische Figuren, als seien sie mythische Heroen.
Die sogenannte Erschaffung Adams ist nur ein Teil des riesigen Werkes, das Michelangelo Buonarroti zwischen 1508 und 1512 in der vatikanischen Sixtinischen Kapelle schuf. Insgesamt 520 Quadratmeter belebte er mit mehr als 115 überlebensgroßen Figuren. Die Szenen aus dem Alten Testament umgab er mit einer gemalten Architektur, die wirkt, als öffneten sich Fenster in den Himmel. Michelangelo empfand das als Strafarbeit. Er hätte lieber als Bildhauer gearbeitet. Doch er hatte sich mit dem Papst gestritten – und dem mächtigsten Mann der Welt widerspricht man nicht. Also griff er, auf Geheiß des Kirchenoberhaupts, zu Pinsel und Farbe. 1536 bis 1541 arbeitete er erneut als Maler in der Sixtina und schuf das über 200 Quadratmeter große Altargemälde.
„Überwältigend“ sei der Eindruck beim Betreten der Kapelle, erinnert sich Erich Garhammer. Schon Johann Wolfgang von Goethe schwärmte: „Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag.“