Drei- bis vierhundert Meter Luftlinie sind es bis zum Festspielhaus. Dort, wo die Musik spielt zum „Fliegenden Holländer“; dort, wo dieses Jahr eine kleine Zelt- und Budenstadt aufgebaut ist zur Testung, Registrierung und Verköstigung der lediglich 911 bestens observierten Premierenbesucher – weniger als die Hälfte der üblichen Gäste.

Also ist die Eintrittskarten-Lage zu den 2021 immerhin stattfindenden Festspielen noch angespannter als sonst. Politiker, Promis, Klerus, Geldadel, an letzter Stelle Journalisten – alles drängt. Ein Gutteil der Journalisten muss dran glauben – und draußen bleiben. Lieber Söder mit ministerieller und staatssekretärlicher Entourage – als Medienvielfalt. Soll er nur mal genau hinhören, der Ministerpräsident, er geht ja sonst nicht so oft in die Oper – unterm Jahr.
Söder Entourage macht Medienvertretern einen Strich durch die Rechnung
Eingeladen waren die Medienvertreter, die zur Premiere draußen zu bleiben hatten, in der vergangenen Woche zunächst ersatzweise zwar zur Generalprobe. Aber sie wurden wieder ausgeladen. Einer der Motoren, die das Klinker-Kleinstadt-Bühnenbild im "Fliegenden Holländer" in Bewegung halten, habe gebrannt, man arbeite hart, die Premiere dennoch stattfinden lassen zu können.
Nun, die Premiere fand statt, planmäßig auf dem Grünen Hügel, am Sonntag. Für den Chronisten an dieser Stelle aber im Gasthof Kolb, wie gesagt drei- bis vierhundert Meter zum Festspielhaus. Ruhig gelegen, saubere Zimmer, gute fränkische Küche, zivile Preise. Der Notfall-Plan war: Live-Stream am Laptop im Biergarten Kolb.

Aber dann kamen wieder Söder mit Entourage in die Quere, respektive die Fahrer der Limousinen. Dazu andere Promi-Fahrer. Also: Der ganze Biergarten Kolb zwischen 17 und 20 Uhr reserviert für Promi-Fahrer. Während der „Fliegende Holländer“ oben auf dem Hügel auf Rache sinnt.
Livestream im Konferenzraum statt "Fliegender Holländer" im Festspielhaus
Was nun? Büßerbänkchen neben dem Biergarten? Geht bis dorthin überhaupt das WLAN? Oder lieber der nüchterne Konferenzraum im ersten Stock? Für diese ur- und erzromantische Oper? Was soll da herauskommen als Kritik? Die Entscheidung fällt für den Konferenzraum. Auf der Bühne wird es ja auch nicht ur- und erzromantisch. Große Dankbarkeit für den BR-Livestream.
Und dann legt Dirigentin Oksana Lyniv ein Meeres-Unwetter hin, dass es knackt und kracht – wie sie überhaupt versteht, dieses Marine-Stück voranzutreiben, aufzuladen, in starke Brandung zu versetzen. Das immerhin ist am Laptop gut zu hören. Schlagkraft teilt sich mit, weniger Farbnuancen, Aufhellungen, lyrisches Schweben. Manchmal müsste Lyniv ein wenig loslassen, Raum zur Selbstentfaltung des Orchesters geben, aber insgesamt: ein beeindruckendes Debüt, auch weil der Chor ja vom Chorprobensaal übertragen und zugespielt wird. Das immerhin schafft ein wenig Trost: Sogar die Choristen dürfen nicht leibhaftig anwesend sein.

Auch Asmik Grigorian als Senta und Bayreuth-Debütantin ist eine Wucht. Als unsterblich verliebter Teenager kann sie herrlich verschämt kichern, extrem genervt sein, wunderbar sich empören und über die wahre Liebe große Töne spucken. Dieses Psychogramm reißt mit.
Tcherniakovs Inszenierung: Rache-Terror und harter Bühnenrealismus
Der Rest der Krimi-Psychologie in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung weit weniger – oder gar nicht. Er zieht alle Register, um auch aus dem "Holländer" einen Thriller zu machen. Lässt zur Ouvertüre die Mutter des noch jungen Holländers – und Gespielin Dalands (Georg Zeppenfeld) – sich erhängen, was den Buben natürlich traumatisiert. Lässt dann den Holländer (John Lundgren) zurückkehren in seine Heimat, um Rache zu üben an der Kleinstadt-Gesellschaft, die seine Mutter in den Tod getrieben hat.
Lässt den Holländer im dritten Aufzug ein paar Seeleute abknallen und das eher triste Backstein-Kiez der Jetztzeit in Flammen aufgehen. Wozu es weitere Tote gibt und Sentas Amme Mary (Marina Prudenskaya) den Holländer mit der Flinte erschießt. Frau erlöst Frau. Ein erstaunlich hoffnungsvolles Finale angesichts des Rache-Terrors zuvor. Holländer endlich tot, sein Wunschtraum; Senta schlussendlich gerettet. Klare Lösung in einem harten Bühnenrealismus. Mit Metaphorik hat es Tcherniakov nicht so.

Eines aber zeigt die eröffnende Kleinstadt-Szene vor Straßenbar: Wie viel doch von Wagners Libretto gleichsam als Nachrichten-Markt einzuordnen ist. Dieses Berichten, Erzählen, Balladensingen und Seemannsgarn Spinnen, dieses Beichten von Wünschen und Ängsten. Im öffentlichen Raum (Bühne: ebenfalls Tcherniakov) wird das deutlich – und das Spinnlied des zweiten Aufzugs zur Chorprobe.
Mehr von diesem „Fliegenden Holländer“, insbesondere in musikalischer Hinsicht, sollte erst nach dem tatsächlichem Besuch der Aufführung geschrieben werden. Der Termin zum Nachsitzen steht, inklusive Zusicherung einer Eintrittskarte.